Der Blick hinter die Fassaden
Urszula Honek erzählt in ihrem Debüt „Die weißen Nächte“ von Menschen und ihren Sehnsüchten, von Trauer und Liebe
Von Liliane Studer
In diesem Roman ist die Trauer, die Melancholie, allgegenwärtig. Die Großmutter stirbt, der Geliebte macht sich aus dem Staub, die unscheinbare Frau aus der Bäckerei bringt sich um. In den dreizehn Geschichten, zusammengehalten von der Klammer Dorf, lesen wir von Menschen, die hier leben, seit je her, die sich kennen, schon immer, und die doch kaum etwas voneinander wissen, obwohl alle lieber in der Nachbarin Garten als im eigenen schnüffeln. Es sind Menschen, die nichts von sich preisgeben, schon gar nicht Gefühle. Die nichts hinterfragen, schon gar nicht das eigene Leben, und die sich nicht als unglücklich bezeichnen würden bis zum Moment, wo ein Ausweg nur noch im Tod gesehen wird. Im Kapitel „Steilhang“ (die einzelnen Kapitel lassen sich, auch wenn sie alle miteinander verknüpft sind, durchaus auch als eigenständige Erzählungen lesen) erzählt ein Uhrmacher von Małgorzata, der vierunddreißigjährigen Bäckereiverkäuferin, die alleine lebte, nachdem die Mutter im Herbst des Vorjahres verstorben war – der Vater war schon lange tot. Den einzigen Glücksmoment erlebt sie, wenn sie jeweils auf dem Nachhauseweg nach einem weiteren langen Arbeitstag in der Bäckerei vom Fahrrad steigt und einen Blick ins Schaufenster der Buchhandlung wirft. Jeden Tag.
„Wenn Vater nicht gestorben wäre, vielleicht hätte ich dann Zeit gehabt, all die Bücher zu lesen? Sie hätten mich zum Studium geschickt, weit weg, ich wäre zu Besuch gekommen, in die Bäckerei gegangen, hätte den besten Laib Brot gekauft und für den Sonntag immer einen halben Hefezopf“, denkt sie. „Und dieser Wrónski hätte nicht mal gewagt, mich anzusehen, es sei denn heimlich, aber gesagt hätte er ganz bestimmt nichts. Irgendwann wäre ich dann mit meinem Verlobten gekommen, den Eltern hätte er gleich gefallen, er hätte in dem Zimmerchen übernachtet, wo das Fenster zum Obstgarten geht, und keiner hätte was zu meckern gehabt.“
So viel ungelebtes Leben lässt sich nicht länger unterdrücken, doch einen Ausweg gibt es nicht. Nicht für Małgorzata, ebenso wenig für die Ich-Erzählerin im Kapitel „Hanna“. Von Kind auf habe sie sich im Grab gesehen, nur den Sarg habe sie mit der Zeit vergrößert. Zwar war sie eine der wenigen, die zum Studium in die Stadt konnte. Doch dann kam sie zurück ins Dorf. Dort sei man einhellig einer Meinung gewesen: „Zum Studium weggehen und zurückkommen, um die Hintern der Kühe anzuglotzen?“ Niemand kann sie verstehen. Hanna geht in den Fluss, dort, wo er am tiefsten ist, mit schweren Steinen in den Taschen. Doch einer zieht sie heraus. „Ich habe mich nie dafür geschämt, ich hegte nur Groll gegen den Mann, der mich herausgezogen hat, er hätte mir nicht nachgehen sollen.“
Den Figuren, deren Geschichten erzählt werden, begegnen die Leser:innen oft mehrmals in den dreizehn Kapiteln, die das Leben im Dorf aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Da sind auch die drei Freunde Andrzej, Pilot, Piotrek. Zu dritt fuhren sie zur Arbeit, erhofften sich davon was auch immer – doch bereits auf Seite 8 steht unmissverständlich: „Denn von uns dreien bin nur noch ich [Piotrek] übrig.“ Pilot, der eigentlich Mariusz hieß, wurde regelmäßig von seinen „Alten“ verprügelt. Die drei verbrachten seit frühester Kindheit viel Zeit miteinander, obwohl sie sehr unterschiedlich waren. Andrzej und Piotrek kümmerten sich um Pilot, der nie richtig lesen gelernt hatte und nicht einmal seinen Namen richtig schreiben konnte. Wenn er wieder mal nicht in die Schule kam, fragt die Lehrerin seine besten Freunde, die jedoch auch nicht mehr wussten und „nur den Blick [senkten]“.
Und wenn jemand ihn fragte, warum er so lange nicht da war und woher er die blauen Flecken und den Schorf hatte, sagte er, er wäre im Krieg gewesen, hätte die Schützengräben bewacht oder wäre als Partisan durch die Wälder gezogen. Damals musste ich zum ersten Mal heulen und lachen, beides gleichzeitig. Und wenn ich jetzt so drüber nachdenke, dann hat er sich das vielleicht gar nicht ausgedacht, es kann gut sein, dass er diesen Krieg wirklich erlebt hat, das Vaterland verteidigt, für Mutter und Vater auf den Feind geschossen. Wer weiß. (…) So eine Krankheit ist sogar noch schlimmer, wie wenn man keine Beine hat, weil diese Krankheit sieht man nicht, der Mensch läuft ganz normal herum und hat das Gefühl abzuheben.
Es sind solche zärtlich-traurigen Momente, die diesen ergreifenden Roman auszeichnen und lange nachwirken. Die polnische Autorin geht ganz nahe an ihre Figuren heran, gibt ihnen eine Stimme, findet eine Sprache, die auf sie zugeschnitten scheint, ja aus ihnen herausspricht. Alles gehört zusammen, das verschlafene Dorf, die verlassene Gegend, die Menschen, die sich fremd bleiben und doch einander nahe sind, die Wünsche, Sehnsüchte, Trauer, Liebe, Verlust. Es gibt zwar ein Miteinander, nur nährt es nicht wirklich und lässt die Dorfbewohner:innen in ihrer Einsamkeit allein. Wie es Urszula Honek und ihrer Übersetzerin gelingt, die Figuren und mit ihnen die Leser:innen trotz aller Trostlosigkeit nicht im Stich zu lassen, ist im Debütroman Die weißen Nächte auf jeder Seite zu lesen. Zu Recht wurde das Buch mit drei polnischen Literaturpreisen ausgezeichnet und stand auf der Longlist des International Booker Prize und auf der Shortlist des Warwick Prize 2024.
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