Heldische Ambition und Todesangst

Hisashi Tôharas Zeitzeugenbericht „Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle“ erzählt vom Tag des Atombombenabwurfs und dem Danach

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Hisashi Tôharas (1927–2007) ein Jahr nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima verfasstem Bericht über seine Erinnerungen an den verhängnisvollen Tag liegt nun in deutscher Übersetzung ein neues zeitgeschichtliches Textzeugnis zum 6. August 1945 vor. In der abschließenden Bemerkung zu Tôharas Erinnerungen hält Mieko, seine Witwe, fest, die Zeilen wären im Original in einem fadengehefteten Notizbuch aus der Kriegszeit enthalten gewesen. Niedergeschrieben worden sind sie wohl 1946, als Tôhara 19 Jahre alt war. Bei dem Text, den sie unter seinen Tagebüchern fand, handelt es sich nicht um eine literarisierte, gleichwohl in eine Form gebrachte Darstellung, die man als kansôbun kategorisieren könnte. Kansôbun ist ein gängiges, dem Besinnungsaufsatz ähnliches subjektives Genre und meint eine Erläuterung eigener Gedanken. Diese Verschriftlichung persönlicher Ansichten kann sich als philosophische Selbstreflexion geben – bis zur ethischen Hinterfragung von Überzeugungen und Handlungen des sich selbst analysierenden Ich.

Tôharas Aufzeichnungen sind mindestens auf zwei verschiedenen Ebenen interessant. Sie ermöglichen erstens einen Einblick in die Psychologie eines jungen Japaners, der, geprägt von der Erziehung zur Zeit des japanischen Militarismus, miterlebt, wie das „Fundament Großjapans krachend“ zerfällt. Zweitens beschreibt der Text authentische Erfahrungen im Zusammenhang mit der Wirkweise der nuklearen Waffe.

Der desillusionierte Oberschüler

Die Kriegsniederlage und das Leben unter amerikanischer Besatzung lassen vieles, von dem der Gymnasiast noch bis zum Tag der Atombombe überzeugt war, bedeutungslos werden. Der Heldengeist, der „Yamato-damashii“, von dem man geglaubt hatte, dass er das kaiserliche Heer kennzeichne, zeigte sich, wie er schreibt, am Ende nur als eine „leere Illusion“. Alle seien „mit dem eigenen Überleben voll ausgelastet“, das Mitgefühl sei „dünner als Papier geworden“ und so etwas wie die „Tugenden der Japaner“ wären „weit und breit nicht mehr zu sehen“. Während Tôhara die herrschende völkisch-militaristische Ideologie und die Mentalität seiner Landsleute allmählich in immer kritischerem Licht sieht, betrachtet er aus dem Abstand mehrerer Monate die eigene Geisteshaltung und sein Tun mit großem Selbstzweifel.

Gerne wäre er – vor allem in den Stunden nach dem Abwurf – dem von ihm hochgehaltenen Idealbild des Oberschülers als „ein von der Gemeinheit gewöhnlicher Menschen enthobener Held“ treu geblieben. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Ort, an dem sich seine Familie befand, geriet er mehrmals in die Lage, sich zwischen heroischer Ambition und Fluchtinstinkt entscheiden zu müssen. Nun quält ihn die Frage, wie hoch seine Schuld ist. Schuldig gemacht hat sich der Gymnasiast, wie er denkt, als er auf der angstgetriebenen Flucht vor den Flammen Menschen nicht half, die seine Unterstützung gebraucht hätten: 

Wäre ich gefasster und stärker gewesen, hätte ich noch mehr Leben retten können. Ich bin letztlich ein schwacher Mensch. Wenn mein Leben bedroht ist, kann ich nur an mich selbst denken. Auch wenn ich im täglichen Leben große Töne spucke, ist meine wahre Persönlichkeit ohne äußere Hülle nur so ein klägliches Wesen. Schwäche ist gleichzeitig Hässlichkeit. Wenn etwas passiert, wie schön sind dann die Taten von starken Menschen. Wie hässlich waren dagegen die Taten von mir, der ich die Gefasstheit verlor. Jedes Mal wenn ich mich daran erinnere, verspüre ich traurige Wut.

„Pikadon“

In dem Moment, in dem die Atombombe einschlägt, wird Tôhara, der sich gerade am Bahnhof aufhält, durch ein helles Leuchten geblendet, um dann für zwei, drei Sekunden fließende Lichtpartikel wahrzunehmen:

Rechts von mir, links, oben, sie umhüllten meinen Körper komplett. Rotgolden leuchtende feine Lichtpartikel. Leuchtende Punkte, noch viel winziger als Funken. Sie bilden nicht bloß Zehntausende, nicht bloß Hunderte Millionen, sondern unzählige Klumpen und fließen herein.

Er kann sich nicht erklären, was geschehen ist, und wundert sich: „Was passiert gerade?“ Die Verwüstung in der Umgebung legt nahe, dass „es sich um etwas sehr Starkes handelte“, und er folgert zu Recht:

Überall, überall so weit das Auge reichte, lagen Ruinen. Ob ein Luftangriff oder eine Naturkatastrophe, es musste sich um ein noch nie dagewesenes Ereignis handeln.

Die Menschen, die ihm auf dem Weg begegnen, haben „bestialische Verbrennungen im Gesicht und ließen sich nicht voneinander unterscheiden“. Eine Szenerie wie aus einem „Höllenbild“: „Auf der Brücke war ein toter Mann – gestorben, als er sich am Geländer festhielt“. Tôhara beschreibt zudem eine unheimliche apokalyptische Landschaft: 

Der Himmel war tiefschwarz von Rauch. Die Sonne hatte sich in eine dunkelrote Feuerkugel ohne Schein verwandelt, die der Sonne bei  Sonnenfinsternis, wenn man sie durch ein verrußtes Glas betrachtet, ähnelte, und schwebte wie ein klaffendes Loch im Himmel.

Neben den unmittelbaren Auswirkungen der in Hiroshima „Pikadon“ (lautmalerisch Lichtblitz und Explosion) genannten Bombe breitet sich Tage nach der Explosion die Atombombenkrankheit aus: 

Die ersten Opfer der Krankheit erbrachen oder schieden schwarze Blutmasse aus und starben. Dann fielen Menschen die Haare aus, oder es bildeten sich violette Flecken auf der Haut, und sie wurden allmählich schwächer und starben.

Hiroshima-Relektüre

Der schmale Band möchte Gelegenheit bieten, sich acht Dekaden nach den Ereignissen noch einmal mit „Hiroshima“ zu befassen. In den beigefügten Erläuterungen des Japanologen und Übersetzers Daniel Jurjew sind aufschlussreiche Hinweise zum zeitgeschichtlichen Kontext und den zentralen Themen Tôharas enthalten. Die Stimme aus der Hölle ist deshalb eine sehr willkommene Ergänzung zur Anthologie Seit jenem Tag. Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Literatur (1984)vor über vier Dekaden im Fischer Verlag publiziert. Seit jenem Tag enthält Übertragungen literarischer Texte, u.a. die Aufzeichnung Sommerblumen, die die Erfahrungen des für die sogenannte Atombombenliteratur (genbaku bungaku) repräsentativen Schriftstellers Tamiki Hara (1905–1951) wiedergibt; dem lange schon vergriffenen Buch wäre im Übrigen eine Neuauflage zu wünschen. Anlass wäre nicht nur der 80. Jahrestag der Ereignisse von Hiroshima / Nagasaki am 6. und 9. August 2025, sondern auch der Umstand, dass die Auswirkungen nuklearer Waffen schon fast in Vergessenheit geraten sind und man heute gut daran tun würde, sich das Szenario in Form einer intensiven Relektüre erneut vor Augen zu führen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hisashi Tôhara: Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle.
Aus dem Japanischen übersetzt von Anika Koide und Daniel Jurjew.
Wallstein Verlag, Göttingen 2025.
78 Seiten, 15 EUR.
ISBN-13: 9783835375956

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