Ich war, was andere von mir erwarteten

Carolin Würfel nimmt den Leser in „Zuhause ist das Wetter unzuverlässig“ mit auf eine Flucht vor patriarchalen Zwängen und einen Weg zu neuer Selbstbestimmung

Von Robin StraetmansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robin Straetmans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter strahlender Sonne und in salziger Meeresluft kredenzt Carolin Würfel ihren Lesern ein kompromissloses, selbstbestimmtes Leben. Die namenlose Protagonistin des Romans beschließt, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Die Frau hat das vermeintliche Rezept für die Verwirklichung ihrer Träume nun selbst in der Hand. Denn es dauert, bis man „auf die Idee kommt, sich das [One Way] Ticket einfach selbst zu kaufen“. Schnell findet sie neue Freundinnen und auch einen neuen Mann. So beginnt ein emotionales Jahr voller Leidenschaft und Selbstbestimmung, aber auch Trauer und bittersüßer Wahrheit.

Carolin Würfel wurde 1986 in Leipzig geboren und studierte Geschichte und Publizistik in Berlin und Istanbul. Sie arbeitet als Journalistin für Die Zeit und publizierte nun ihren ersten Roman als freie Autorin.

„Ich will kein Kind. Ich will Sex. […] Ich will keine Mutter sein.“ 

In ihrem Tagebuch formuliert die 36-jährige Protagonistin den Wunsch nach freier Entfaltung, ohne Zwänge und patriarchal vermittelte Lebensweisen. „Seit ich denken kann, habe ich brav mitgespielt, genickt, den Kopf gesenkt, geschluckt, angezogen, stillgehalten, weggeschoben. […] Ich will nicht mehr.“ So soll es sein. Keine Kinder, dafür der Geschmack leidenschaftlicher Erfahrungen und ungezügelter Lebenslust. Mit unregelmäßig datierten Tagebucheinträgen wird die Diskursebene des Romans dargestellt. Mit einer großen Portion Selbstreflexion und kritischen Gedanken zu Gesellschaft, Partnerschaft und Leben wird der Leser durch das neue Leben der Protagonistin geleitet. Doch Altlasten können nur eine Zeit lang verdrängt werden und Gedanken nur schwer überlistet werden, denn „so denke ich eben nicht.“ 

Würfel bietet dem Leser parallel zu den Tagebucheinträgen des Jahres 2022 eine Reise in die Vergangenheit. Dabei offenbart sie die Geschichte der „Mutter meiner Mutter meiner Mutter meiner Mutter meiner Mutter. Zeitreisen müsste man können, den Anfang finden.“ Die personale Erzählweise sorgt dafür, dass die Vergangenheitspassagen empfindsam nachvollziehbar erscheinen, und leitet den Rezipienten zusätzlich durch die emotionalen Turbulenzen der Figuren Anna, Ella, Rosa und Viola. Gleichzeitig sorgt Würfel für eine Übersicht vielfältiger Erfahrungen, indem beispielsweise Briefe angeführt werden, die andere Figuren nie erhalten. Dabei deckt Würfel auf, welche Folgen es hat, immer funktionieren zu müssen und eigene Gefühle einzuschränken, denn „Gefühle zu zeigen bedeutet, schwach und verletzlich zu sein“. Das führt die Protagonistin zu einer Erkenntnis, „nämlich, dass Frauen immer von Erwartungen geprägt werden, wie sie sich verhalten sollen, und ihnen dadurch die Freiheit verwehrt wird, sich selbst zu entdecken und zu erkennen.“ Doch sich gänzlich von diesen Erwartungen zu lösen, ist schwerer, als es zu Beginn scheint.

Die Knappheit der Kapitel und das Wechselspiel von Präsens und Vergangenheit erzeugen ein dynamisches Erzähltempo. Die Tagebucheinträge pulsieren vor Dringlichkeit, Lebenslust und einer Schnelllebigkeit, die jedoch von einer Vergänglichkeit kündet. Zugleich sorgen die historischen Abschnitte zur Familienvergangenheit für eine ausgewogene Ruhe in der Erzählung, was die Spannung des Romans allerdings nicht mindert. Die klare Struktur der Erzählpassagen unterstreicht zusätzlich die mitschwingende Wut und Enttäuschung der Tagebucheinträge. Die kurzen Kapitel erhöhen die Frequenz der Einblicke und betonen die bewegende Vergangenheit und einen facettenreichen Sommer.

Zuhause ist das Wetter unzuverlässig ist ein kraftvolles Plädoyer für feminine Selbstbestimmung und eigene Lebensentwürfe. Würfel zeigt, wie der Habitus unsere Handlungsspielräume prägt und wie viel Mut es braucht, ihn allein zu überwinden. Ein Roman, welcher Generationenkonflikte, Selbstfindungsprozesse und die Suche nach Freiheit in einer bewegenden Erzählung vereint. Leser, die einen Text mit emotionaler Intensität und klarer Sprache erleben möchten, sind mit dem neuen Roman von Carolin Würfel sehr gut beraten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Carolin Würfel: Zuhause ist das Wetter unzuverlässig.
Hanser Berlin, Berlin 2025.
224 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446282483

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