Szenen eines Ausbruchs

Simon Werle beschreibt die Verlorenheit des Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft

Von Manuela JahrmärkerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuela Jahrmärker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 12 Kapiteln seiner Erzählung beschreibt Simon Werle eine Welt, die bestimmt ist von Beziehungslosigkeit, dem Signum der durchgestylten und computer-, internet- oder, wie hier, handy- und telefonvernetzten Zeit, und einer Ausnahmesituation, dem Tod der Mutter eines Ichs, die dieses Ich dazu führt, seine Beziehungslosigkeit zumindest zu erkennen und aufzubrechen. Dabei geht es um einen jüngeren Mann in einer "multinationalen" Umgebung.

Nur wenige Tage aus dem Leben des Protagonisten Manolis werden geschildert: er istTelefonverkäufer und Sohn einer deutschen Mutter und eines griechischen Vaters, den er aber nie sah. Dieses Ich erlebt, wie sich herausstellen wird, die letzte Begegnung mit seiner Scheinfreundin Claire, erlebt die Beerdigung seiner Mutter, begegnet ihren und seinen Verwandten, versucht, die Wohnung der Mutter aufzulösen, deren Einrichtung einen erinnerungs- und gedankenträchtigen Sog auf ihn ausübt, muss erkennen, dass er, wie seine Tante es ausspricht, nun niemanden mehr hat. Auf einem Kastanienbaum überdenkt er sein Leben. Ein Türke gibt ihm das Gefühl von Nähe und Vertrauen, und mit einem Italiener zusammen muss er sehen, dass Claire längst mit einem anderen, einem Schwarzen, liiert ist (abgesehen davon, dass sie mit irgendeinem Dritten, angeblich bedeutungslos gewordenen Mann zusammenlebt). Und die Aussprache mit ihr, in der er erstmals in dieser von Anfang an auf künstliche Regeln ausgerichteten Beziehung verbotene Fragen stellt, bleibt denn auch inhaltslos. Nach Hause zurückgekehrt zertrümmert er seine "Korrekter-Wohnen-Einöde", wie er es nun nennt, und lässt auch die Umgebung des Hauses, in dem er wohnt, nicht unverschont. Dass die beiden Hausmeister zur Strafe - dies das Schlussbild - alle Bierflaschen, die er sich als trinkfreudiger Mann in die Wohnung holen will, über ihm ausgießen, mag man als Gag und als Tribut an das zeitübliche Spiel der ans Absurde grenzenden Selbststilisierung auffassen, der Leser soll es aber wohl eher als entfernte Anspielung an ein gleichsam religiöses Reinwaschen deuten, zumal sich hier der Kreis zum Titel wie zum Regen am Beerdigungstag schließt, das Motiv also nicht zufällig gesetzt erscheint.

Wie mit dem Hinweis auf dieses Motivspiel angedeutet, hat Werle sein Thema technisch gekonnt durchgeführt und exemplifiziert an einem, der in den Augen der deutschen Öffentlichkeit als Ausländer erscheint. Doch eben in dieser Aussage steckt ein Problem, vielleicht das Problem des Buches überhaupt: dass die beiden Themen, Beziehungslosigkeit und "deutscher Ausländer in Deutschland", nicht notwendig aufeinander verweisen und doch gerade durch die motivische Behandlung betont hervortreten, weswegen das Ganze nicht frei vom Eindruck des Konstruierten ist - und zwar auf sprachlicher, motivischer und dramaturgischer Ebene -, demgegenüber der erzählerische Impuls zurücktritt. Werle nun hat seine Personen modellhaft arrangiert. Sie alle sind Fremde: sie sind Fremde ihrer Herkunft nach oder bleiben einander Fremde, wenn sie sich als Freunde oder Verwandte nahe sein sollten. Die Älteren in dieser Welt sind Deutsche wie die Mutter von Manolis, sein Onkel und seine Tante, einfache Leute, zwischen denen eine ausgeprägte Standeshierarchie herrscht. Die Jungen dagegen haben dies, soweit es sich um Deutsche wie Manolis und Claire handelt, in Lifestyle übersetzt und sind dabei wie Manolis beruflich erfolgreich (oder zumindest abgesichert), bleiben menschlich aber farblos. Und die übrigen jungen oder nicht mehr ganz jungen Leute sind Ausländer: Oregon der Türke und Corrado der Italiener, die beide sich und ihr Gegenüber offen wahrnehmen und darum menschliche Nähe vermitteln. Von da aus gesehen tragen Manolis und Claire wohl kaum zufällig keine deutschen Namen, - und erscheint dies als Ausdruck einer ihnen bewussten oder gerade erst bewusst werdenden Sehnsucht nach einem natürlichen Leben.

Dieses Personenmodell ist ausgestattet mit einer Fülle von Motiven, denen ein starker Zeichencharakter eignet und die gerade auch wegen dieser Fülle nicht frei sind vom Stigma des Klischees. Das wirft zumindest die Frage nach ihrer ästhetischen und zum Teil auch inhaltlichen Berechtigung auf und lässt weiter fragen, ob da nicht weniger mehr gewesen wäre. Denn erzähltechnisch verleiht die Motivfülle dem Ganzen ein Moment von statischer Exempelhaftigkeit, die dem Hauptanliegen, den Weg einer Bewusstwerdung nachzuzeichnen, zumindest nicht unterstützend entgegenkommt, wenn nicht gar ihm zuwiderläuft. Literarisch allzu geläufig ist es, wenn sich die fehlende Verankerung des Ichs in einer Reihe verschiedener Namen manifestiert, unter welchen das Ich anderen Menschen begegnet: mit dem Vornamen "Manolis"; mit "Taxidis", dem Namen des Vaters; mit "Moralt", dem Namen der Mutter; oder mit dem türkischen "Arkadesh", der für sein südländisches Äußeres und seine Leibesfülle steht, die wiederum ein teurer Sportwagen ausgleichen soll. Ebenso zeichenhaft dazu der Beruf des Ichs: Telefonverkäufer, der also weder zu den Kunden noch zu den Dingen, die verkauft werden, irgendeine Art des direkten Kontaktes zulässt. Dazu gehören die Wohnung, die teuer, aber leblos eingerichtet ist, und die künstlich geregelte Beziehung zu Claire, die sich selbst zur leblos hellen Maske stylt und dementsprechend auch Sonnenstrahlen nicht vertragen kann. Ein gerade in intimer Situation getragenes Kopfhörerkabel symbolisiert Claires Fernnähe; eine nicht zu überschminkende Narbe markiert zeichenhaft ihr Menschsein. Dass Manolis, der scheinbare Südländer, statt Wein ein noch dazu belgisches Bier - in zu großen Mengen - liebt, ist ebensosehr Merkmal seiner inneren Unstimmigkeit, wie die Tatsache, dass er einzelne griechische Worte wohl kennt, aber niemals in Griechenland war und keineswegs zu Hause Neugriechisch hörte, sondern in der Schule Altgriechisch lernte. An Pflanzen dagegen - auch das etwas zu plakativ - erlebt Manolis die Gegenwelt des Natürlichen; sie erwecken - ebenso wie der Umgang mit echten Ausländern - ein Gefühl von Ursprünglichkeit: vielleicht nicht die erste, die Zitronengeranie, wohl aber die Gewächse der Mutter und die Kastanie, auf der Manolis einen Abend, den Blick in die Ferne richtend, verbringt, die zum Schluss aber einem Parkplatz weichen muss.

Erzählt wird dieser Weg des Ausbruchs in zwei verschiedenen Modi: klar und eher kürzer sind die Sätze, in denen es ums reale Leben geht. Die Momente aber, die das Innere erschließen, sind in lange Gedanken- und Satzketten gefasst. Und wie es einem psychologischen Entwicklungsprozess ansteht, ist da nicht alles gerade gedankenreicher Tiefsinn. Ob man diesen aber auch so präsentieren soll? Die Ich-Form bringt das ihr eigene Problem mit sich: zwar ist alles aus diesem Blickwinkel gesehen; dann aber käme es darauf an, manche Formulierung, die wie ein Fehlgriff aussieht, erzähltechnisch deutlich aus der Sicht des Ich-Erzählers hervorgehen zu lassen. So etwa die Beobachtung am ersten Regentag: "Die Intervalle der Trockenheit dauern jeweils nur wenige Minuten. Die Versammlung entscheidet sich mehrheitlich, diesen Intervallen nicht mehr zu glauben. Die Schirme bleiben geöffnet". Oder auf dem Markt: "Jenseits meines Tellers entfaltet sich die vorsintflutliche Form des Verkaufs von Angesicht zu Angesicht". Oder das Zusammensein mit dem Türken: "Seine Nähe wirkt wie Magnesium bei Muskelkrampf". Hier werden einzelne Wörter oder Ausdrücke geradezu "eingesetzt", statisch und festgesetzt wie Begriffe, die den vielleicht angestrebten situativen Eindruck nicht aufkommen lassen, es vollziehe sich hier eine ganz ins Technisierte abgeschobene Wahrnehmung des Subjekts. So bleibt der Verdacht nicht aus, dass da wohl doch eher der Verfasser selbst spricht.

Werle hat sich zwei Themen gestellt, die beide ihre in der Gegenwart begründete Berechtigung tragen: menschliche Verlorenheit trotz äußeren Wohlstandes und eine national gemischte Gesellschaft, wie sie in Deutschland existiert. Eine Utopie mag der Leser aus dem Buch vielleicht mitnehmen: dass die verschiedenen nationalen Eigenheiten in positivem Sinne einander ergänzen oder für jeden Teil hilfreich sein könnten.

Titelbild

Simon Werle: Abendregen. Erzählung.
Verlag Antje Kunstmann, München 1999.
144 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3888972213

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