Ein Senkblei in die Geschichte

Hervé Le Tellier sucht in „Der Name an der Wand“ nach Spuren eines unbekannten jungen Mannes und Kämpfers in der Résistance

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Niemals waren wir freier als unter der deutschen Besatzung.“ Der Satz von Jean-Paul Sartre aus dem Jahr 1944 ist mit seiner Widersprüchlichkeit legendär. Hervé Le Tellier zitiert ihn in seinem neuen Buch Der Name an der Wand, und er verleiht ihm eine konkrete Bedeutung. Er erzählt darin, wie er vor Jahren in der Drôme, in der Nähe des Städtchens Dieulefit, ein Haus gesucht habe. Es sollte ein „Geburtshaus“ werden, „in dem ich meine Wurzeln erfinden konnte“. Er fand schließlich ein passendes Anwesen, bei dessen Rekognoszierung er unvermittelt auf einen Namen stieß, der in den Rohputz der Außenwand eingeritzt war: ANDRÉ CHAIX. Der Name sagte ihm nichts, aber er erinnerte ihn an Marie Chaix, die Lebensgefährtin des Perec-Freundes Harry Matthews, wie Le Tellier ein Mitglied von OULIPO, der Werkstatt für potentielle Literatur. Die Fährte erwies sich als falsch, doch mit dem Namen an der Wand hielt er einen Faden in der Hand, dem er in die Vergangenheit folgte und so diesem André Chaix näher kommen sollte. Davon handelt sein Buch, das Essay und Recherche miteinander verknüpft.

Nach und nach kommt Le Tellier einem jungen Widerstandskämpfer auf die Spur, der 1944 mit 20 Jahren bei einer Aktion der Résistance ums Leben kam. Mit aller Zurückhaltung und ohne „zu mogeln“ will er dessen kurzes Leben nachzeichnen. Er findet weitere Inschriften auf Gedenktafeln und ein paar Hinweise im Archiv, und er stößt auf Menschen, die ihm ein Kästchen mit persönlichen Gegenständen von André Chaix aushändigen. Warum dieser in den Widerstand ging, kann der Autor nur vermuten. Die Fotografien in jenem Kästchen, die er in seinem Buch abbildet, zeigen einen kräftigen, jungen Mann, der auf einem Pferderücken balanciert oder mit seiner Verlobten Simone in den Armen vor einer Kirche sitzt. In seinen Gesichtszügen glaubt er etwas „vom jungen Jean Gabin oder von Burt Lancaster“ zu erkennen.

Die Drôme und speziell Dieulefit spielten in jenen Jahren der deutschen Besetzung eine ganz besondere Rolle. Das Städtchen war ein Hort des Widerstands. Gruppen wie das Bataillon Morvan agitierten aus dem Hinterhalt gegen die Besatzer. Die Pädagogin Marguerite Soubeyran führte hier eine Reformschule, in der jüdischen Kinder versteckt wurden, und die zwanzigjährige Gemeindesekretärin Jeanne Barnier stellte „Tausende von falschen Ausweispapieren“ aus, um Menschen vor dem Vernichtungslager zu retten. Dieulefit bot auch Flüchtlingen wie René Char, Paul Aragon, Elsa Triolet oder Henri Roché Unterschlupf. Niemand wurde hier verraten, und die deutsche Armee hatte sich nie dafür entschieden, „in Dieulefit Terror zu säen“.

Der Autor Henri Roché verleitet Le Tellier zu einer seiner Abschweifungen, die typisch sind für dieses Buch. Roché schrieb die literarische Vorlage zu Truffauts Film Jules et Jim. Offenkundig hegt Le Tellier ein Faible fürs Kino, für Carnés Die Kinder des Olymp ebenso wie für die missratene Titanic-Verfilmung von Hubert Selpin, die Goebbels beauftragte, die aber 1944 nicht mehr in Deutschland gezeigt wurde, weil das sinkende Schiff zu sehr an die untergehende Naziherrschaft erinnerte.

Auch wenn beide Filme mit einem Abstand von zwei Jahren ins Kino kamen, müsste man die Dreharbeiten an Titanic und an Die Kinder des Olymp parallel erzählen, die eine unter Schreckensherrschaft, die andere, «trotz allem», in Freiheit.

Die Erinnerung an die Filme jener Epoche lässt Le Tellier mutmaßen, welche von ihnen André Chaix im kleinen Kino von Dieulefit hätte gesehen haben können. Beispielsweise Michel L‘Herbiers großen Erfolg La nuit fantastique:

Ich stelle mir gerne vor, wie Simone, als sie aus dem dunklen Saal hinaustraten, wie im Film lachend zu André gesagt haben kann: ‚Wie redest du denn, du hörst dich an wie ein wandelndes Lexikon …‘

Die im Putz eingeritzte Inschrift verursacht wie ein ins Wasser geworfener Stein Wellen von historischen Erinnerungen, die sich Le Tellier ins Gedächtnis zurückruft und nach und nach zu einem Bild der kollektiven Befindlichkeit jener Jahre verdichtet. Er schweift nur zu gerne in alle Richtungen ab und erwähnt Bücher, Lieder und Filme, die damals bekannt waren. Er nimmt auch das besetzte Paris mit in den Blick, wo in den 1940er Jahren das Vergnügen im Lido, im Casino de Paris oder im Moulin Rouge ungehemmt weiterging, als ob es keinen Krieg gäbe. Stars wie Edith Piaf und Sacha Guitry tanzten und sangen im L‘A.B.C für die Nazis, und Jean Anouilh publizierte ein Buch im arisierten Balzac-Verlag. „Hätte ich dem Henker widerstanden“, befragt sich Le Tellier selbst mit einem Buchtitel von Pierre Bayard.

Letztlich dreht sich aber alles um Dieulefit und um André Chaix. Er ist sich bei seiner Recherche stets bewusst, welcher Faden ihn zu seinem weit ausgreifenden Porträt der letzten Kriegsjahre geführt hat.

Was ich weiß, ist, dass ich ohne diesen in eine Wand gravierten Namen, dass ich ohne André Chaix als Senkblei niemals diese Epoche hätte erkunden können, in der Großherzigkeit und Mut mit Egoismus und Niedertracht eng beieinanderlagen wie nur selten.

Dieser wartet 1944 im Maquis auf seinen Einsatz, als sich die Lage nach der Landung der Alliierten in Südfrankreich zuspitzt. Ein Versuch der Résistance, die Deportierten zu retten, die mit dem letzten „Geisterzug“ nach Dachau transportiert wurden, misslang. Eine Panzerdivision unter Führung des SS-Oberleutnants Baumgartner konnte es verhindern. Le Tellier beschreibt es ebenso nüchtern wie die Massaker an der Zivilbevölkerung. Und die verächtlichen Worte von General de Gaulle über die lächerliche „Maskerade“ der schlecht ausgerüsteten Maquis-Truppen kontert Le Tellier forsch: „Mit zwanzig für die Freiheit zu sterben, für eine ‚bestimmte Vorstellung‘ von Frankreich, das ist, mon général, keine Maskerade“. André Chaix war bloß ein Bäckersohn, der sich die Freiheit nahm, für die Befreiung Frankreichs zu kämpfen und sein Leben hinzugeben, derweil sich die Eliten bedeckt hielten oder mit den Besatzern kooperierten. Auch die Résistance vermochte die sozialen Klüfte letztlich nicht zu überbrücken.

Der Name an der Wand ist ein beeindruckendes, ebenso lebhaftes wie dunkel grundiertes Porträt einer Epoche, die in vielen Widersprüchen gefangen war und die, vergisst Le Tellier nicht zu erwähnen, in der Geschichte des Front National bis heute nachwirkt. Auch auf deutscher Seite hatten viele der namentlich bekannten Mörder lächerlich geringe Strafen erhalten und sich bald schon wieder in der bundesdeutschen Verwaltung etabliert. Mit seinem Blick zurück auf der Suche nach André Chaix entdeckt der Autor eine Fülle an verborgenen Zusammenhängen, und er erweist Menschen wie dem vergessenen André Chaix oder der später von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrten Jeanne Barnier die gebührende Ehre. Mit ihrem Mut verkörpern sie die Jahre der deutschen Besetzung und legen Ehre für den französischen Widerstand ein.

André Chaix starb am Abend des 23. August 1944, nachdem seine Gruppe beim Vorstoß nach Montélimar in einen deutschen Hinterhalt geraten war. Mit ihm starben auch Gabriel Deudier, Jean Gentili, Robert Monnier, Jean Barsamian, Paul Martin und Raoul Dydier. Indem er dieses Buch geschrieben habe, schließt der Autor, konnte er sich „André lebend – und nicht tot – vorstellen“. Die Leser und Leserinnen begleiten ihn auf diesem Weg.

Titelbild

Hervé Le Tellier: Der Name an der Wand.
aus dem Französischen von Romy Ritte und Jürgen Ritte.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2025.
160 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498007423

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