Asche, die dennoch lacht
In ihrem Roman „Schwebende Lasten“ erzählt Annett Gröschner ein ganzes Jahrhundert anhand der Biographie einer Frau
Von Dietmar Jacobsen
Hanna Krause ist der Name der Hauptfigur in Annett Gröschners drittem Roman Schwebende Lasten. Die 1964 in Magdeburg geborene und seit Mitte der 1980er Jahre in Berlin lebende Autorin erzählt darin nicht nur die Geschichte einer Frau aus proletarischem Milieu, sondern lässt auch das Schicksal einer Stadt, eines Landes und eines Jahrhunderts in eindrucksvoller Weise Revue passieren. Eines Landes, das erst Deutschland hieß, dann, nach einem verheerenden Weltkrieg, DDR und knappe vierzig Jahre später wieder Deutschland. Einer Stadt namens Magdeburg, in der Hanna geboren wurde, während der dunklen Nazijahre einen kleinen Blumenladen betrieb, um schließlich im ostdeutschen Teilstaat, dessen Gründer alles anders machen wollten als ihre sämtlichen Vorgänger, in einen Beruf hineinzuwachsen, der bis dahin einzig und allein für Männer vorbehalten schien, den einer Kranführerin. Und schließlich eines Jahrhunderts der Ismen und Ideologien, deren jeder und jede das Himmelreich auf Erden versprachen, aber gnadenlos vorgingen gegen jene, die sich nicht einreihen wollten in das Heer der widerstandslos ihren Führern Folgenden, sondern auf einen je eigenen Weg zur Glückseligkeit bestanden.
Mit dieser Frau ist Gröschner eine Figur gelungen, die exemplarisch steht für Tausende, ja Millionen anderer Frauen, einfacher Menschen mit einfachen Wünschen, einfachen Sehnsüchten und den Horizont ihrer kleinen Welten nicht allzu weit überschreitenden Träumen. Und die Empathie und Wärme, mit der sie deren Lebensweg vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und den Hitlerfaschismus bis zur DDR und deren letztendlichen Zusammenbruch verfolgt, lässt erahnen, dass die Autorin zur Beschreibung des Schicksals dieser Frau viele Bausteine aus ihrem persönlichen Umfeld benutzte.
„Kleine Leute“ nennt man landläufig jene im guten Sinne unheldischen Menschen, die den Lauf der Geschichte nicht bestimmen, sondern von ihr mitgerissen werden, gelegentlich zu ihrem Glück, noch öfter freilich zu dessen Gegenteil. Und dennoch: Scheinbar machtlos den Weltläuften ausgeliefert, geht nichts ohne sie. Sie sind die, die die Dinge am Laufen halten, ohne dass man sich bei ihnen je dafür bedankt. Es wird für selbstverständlich genommen, was sie tun, obwohl das häufig viel mehr ist als das, was man von einem Menschen in seinem kurzen Leben überhaupt erwarten kann.
Hanna Krause gehört zu diesen ihr Schicksal frag- und klaglos annehmenden Menschen. Anständig ihr Leben zu leben, ist ihr einziger Wunsch, für ihren Mann Karl und jene vier Töchter, die ihr am Ende von sechs Kindern übrigbleiben, da zu sein, die Quelle ihrer Kraft. Von Leid und Schmerz nicht verschont – zwei ihrer sechs Kinder hat sie nicht begraben können, ihr Mann Karl verlor früh bei einem Arbeitsunfall ein Bein, später beraubte ihn der Kehlkopfkrebs der Sprache –, erhebt sie sich dennoch jeden neuen Morgen, um ihren Alltag, wie sie es gewohnt ist, anzugehen.
Eines der schönsten Kapitel in Annett Gröschners Roman, jenes, das die Nummer 15 trägt, berichtet minutiös und ohne etwas auszulassen von einem solchen Tag aus Hanna Krauses Leben. Da wird nichts von der Autorin vergessen – nicht das Abwischen der von Hannas Mann beim nächtlichen Toilettengang hochgeklappten Klobrille, nicht das Anheizen von drei Öfen mit Holz und je einer „Doppelseite der Volksstimme“, des Magdeburger Presseorgans der Einheitspartei, nicht die „Katzenwäsche“ am Toilettenwaschbecken und auch nicht das Befüllen der „Brotbüchse aus rötlichem Aluminium“ mit zwei Scheiben Schmalzbrot und ihr anschließendes Verstauen in einem Beutel „aus dem gleichen Stoff […] wie ihre Kittelschürze“. Alles, selbst das scheinbar Kleinste, ist wichtig, gehört in den Text, weil es einen Teil des Alltags seiner Heldin darstellt.
Schwebende Lasten hat die Autorin in 25 Kapitel untergliedert. Jedes von ihnen beginnt mit der Beschreibung einer Blume, vier mit Bemerkungen zu Tieren (Libelle, Fliege, Raupe, Schnecke mit Haus). Diese Einleitungen sämtlicher Kapitel beziehen sich auf das Gemälde Blumenvase in einer Fensternische des niederländischen Malers Ambrosius Bosschaert (1573–1621). Mit dem Werk des flämischen Meisters hat es eine besondere Bewandtnis. Es begegnet Hanna Krause zum ersten Mal, als im September 1938 ein Mann ihren Blumenladen betritt und sie darum bittet, ihm das von dem Holländer gemalte Arrangement mit realen Blumen nachzugestalten.
Da das aus Gründen der unterschiedlichen Blühzeiten der von Bosschaert gemalten Blumen, die sich über das ganze Jahr erstrecken, nicht möglich ist, begnügt sich der Kunde schließlich damit, ein vergleichbares Gesteck, wie es der noch zu Lebzeiten Bosschaerts geborene Jacob Marrel (1614–1681) mit Blumenstück mit Vase gemalt hatte, zu bestellen. Hanna bemüht sich, den Wünschen des Mannes nachzukommen, doch der holt das Bestellte nicht ab, so dass ihr letztlich nur ein handkoloriertes Bild ihrer Arbeit bleibt. Sie hängt es ins Fenster ihres Ladens in der Hoffnung, mit ihm das seit Kurzem für alle Läden obligatorische Schild „Juden sind in diesem Geschäft nicht erwünscht.“ zu übertrumpfen. Es und die Erinnerung an den Mann, der sie mit diesem Gemälde zum ersten Mal konfrontierte, werden ihr bleiben bis an das Ende ihres Lebens, wenn sie gemeinsam mit ihren Töchtern im Mauritshuis-Museum von Den Haag vor dem Original des Bildes steht und als eine der letzten Handlungen vor ihrem Tod einen Brief an den unbekannten Auftraggeber formuliert, in dem sie die Erfüllung seines Wunsches vermeldet.
„Natürlich hätte Hanna auch gerne einen Pfau in der Halle gesehen oder wenigstens einen Flamingo“, heißt es in einer an Wolfgang Hilbigs (1941–2007) Gedicht episode - „im düstern kesselhaus im licht/ rußiger lampen plötzlich auf dem brikettberg/ saß ein grüner fasan/ ein prächtiger clown“ – erinnernden Passage. Es sind kleine Zeichen wie dieses, die der Lektüre Weite verleihen, das Erzählte in Kontexte stellen, die vielleicht nicht für jeden gegenwärtig sind, aber gerade die Erinnerung jener Leserinnen und Leser triggern, die mit der Autorin Herkunft und Sozialisation teilen.
Auch Hinweise auf die verschiedenen Zeiten, in denen die Geschichte spielt, hat Annett Gröschner in der Regel nicht plakativ hervorgehoben, sondern in ein, zwei sich nahtlos in den übrigen Text einfügenden Sätzen fast versteckt. Und doch fallen sie auf und sorgen durch ihre erinnernde Funktion für ein Aha-Erlebnis beim Lesen. Dass man etwa im östlichen Deutschland das Fehlen einer Programmzeitschrift für die Westsender kompensierte, indem man sich am Sonntagmorgen mit Papier und Stift bewaffnet vor den Fernseher setzte und, kurz bevor die betuliche Männerrunde um Werner Höfer in dessen „Internationalem Frühschoppen“ ins politische Fachsimpeln abdriftete, die interessanten Sendungen der kommenden sieben Tage notierte – nicht nur Hanna Krause hat das gemacht, aber wer weiß das schon noch.
Schwebende Lasten imponiert mit seinem schlichten Erzählen, das oft geradezu lakonisch daherkommt. So sind es nur zwei Sätze, mit denen Annett Gröschner den Tod von Hannas Mann Karl beschreibt: „Eines Abends verstummte das Röcheln. Karl war gestorben und wurde von Hanna ins Feuer geschickt.“ Schon mit dem nächsten Satz ist die Protagonistin dann wieder bei ihren geliebten Blumen: „Gut, dass es Juni war, schon wegen des Grabgestecks.“
Erst im allerletzten Satz des Romans mischt sich die Autorin übrigens mit ihrem „Ich“ in die Geschichte ein, die bis dahin aus einer eher distanzierten personalen Perspektive erzählt wurde. Als die drei ihrer Töchter, die bis zum Schluss noch in der Nähe der Mutter wohnen, ihr eine von jenen Sonnenblumen aufs Grab legen, mit deren Samen sie selbst kurz vor ihrem Tod den Umriss ihres alten Blumenladens wiederauferstehen ließ, lässt sich die enge Bindung der Autorin an ihre Heldin nicht mehr verheimlichen und es heißt: „Und ich sehe Hanna unter der Erde lachen, über die ahnungslosen studierten Töchter, wenn das nicht ganz unmöglich wäre, denn Asche lacht nicht.“ Vielleicht irrt sich Annett Gröschner aber auch an dieser Stelle – denn ihr eigener Roman bringt die Asche der Vergangenheit noch einmal kräftig zum Erglühen. Und findet mit seinem Titel Schwebende Lasten ein wunderbares Bild für ein schweres Leben, angefüllt mit vielen leichten Momenten.
|
||















