In Versen und Bildern durch Italien
Hannes Fricke lädt mit seinem Sammelband „Italien“ zu einer poetisch-visuellen Bildungsreise durch das südliche Sehnsuchtsland ein
Von Thomas Merklinger
Mit dem Beginn der Sommerferien brechen wieder unzählige Urlauber in Richtung Süden auf, um in dem heitereren Land jenseits der Alpen eine urgründigere Gegenwelt zu suchen. Die Sehnsucht nach Italien ist ungebrochen; gerade die Deutschen zieht es häufig dorthin. Nicht allein die sonnigeren Gefilde und ihre Menschen bilden einen Gegenpol zum klimatisch und charakterlich unterkühlten Norden. Neben häufig erstrebtem und kaum erreichtem dolce vita ziehen die Kunstschätze der römischen Antike und der Renaissance Bildungsreisende in das Geist und Körper gleichermaßen erquickende „Land, wo die Zitronen blühn“. Generationen von Reisenden sind dem Schutzpatron der deutschen Italiensehnsucht, De[m] hl. Goethe (wie Heinrich Hoffmann von Fallersleben im Titel eines Gedichts formuliert), nach Italien gefolgt, und manche von ihnen haben lyrische Souvenirs zurückgebracht.
Eine Auswahl von Italien-Gedichten hat der Germanist und Lektor im Reclam-Verlag in dem Lyrik-Bildband Italien. Eine Liebeserklärung in Bildern und Gedichten zusammengestellt. Einer geographischen Nord-Süd-Route folgend, nehmen die Bild-Text-Kompositionen den Weg über Norditalien, das Veneto, Ligurien und die Toskana nach Rom. Von dort geht es weiter ins Mezzogiorno bis nach Sizilien, wo dann wieder der Abschied ansteht. Die lyrischen Texte aus unterschiedlichen Zeiten werden jeweils mit einem passenden Bild abgedruckt, so dass sich eine gegenseitige Bereicherung einstellt. Ein Nachwort des ehemaligen Italien-Korrespondenten Stefan Ulrich beschließt den Band.
Aus Deutschland kommend geht es mit den beiden klassischen Gedichten Reiselied von Hugo von Hofmannsthal und Mignon von Johann Wolfgang Goethe über die Berge nach Italien und damit direkt in die Bilderwelt der Italiensehnsucht. Die mittlerweile anachronistischen Verweise auf die Gefahren der Alpenüberquerung werden hier noch mit einem imaginären, von oben kommenden Blick belohnt, der das ersehnte Land als paradiesischen locus amoenus perspektiviert. Die topischen Bilder rufen eine von Sonne und Früchten reich gesegnete Gegend auf, die zudem mit Seen und Blumenwiesen sowie einem „leichten“, „sanfte[n] Wind“ eine ideale Lebensstätte bietet. All dies zeichnet Italien schließlich als ursprünglicheren Ort, der das einzulösen scheint, was Stefan Ulrich als die von Mythos und Religion versprochene bessere Welt, die „Metapher für Glück“ bezeichnet. In romantisierender Bukolik visualisiert das Landschaftsbild des US-amerikanischen Künstlers Robert Scott Duncanson, Recollections of Italy von 1864, die Bildlichkeit bei von Hofmannsthal. Für Goethe hingegen greifen Paul Gauguins Oranges et citrons avec vue sur Pont-Aven (1890), statt eines direkten Italienbezugs, die prominent gewordene Liedzeile über Südfrüchte auf.
Auch wenn die Bild-Vers-Verbindungen was Gegenstand, Stil und zeitliche Kongruenz betrifft nicht immer eine unmittelbare Beziehung eingehen, findet sich doch Gemeinsamkeiten, wodurch die so zusammengerückten Kunstwerke ein sich gegenseitig inspirierendes Ganzes ergeben. Paul Heyses Abschied von Rom steht neben einer Fotografie von Hektor Leibundgut von 1981, die ausweislich ihres Titels mehrere in die Ferne blickende Personen am Lido d’Ostia, Latium zeigt. Rainer Maria Rilkes Gedicht Arco hingegen wird eine Zeichnung Albrecht Dürers aus dem 15. Jahrhundert zugeordnet, da beide die Kleinstadt im Trentino referenzieren. Die nach den Vorgaben der Reiseroute ausgewählten und angeordneten Gedichte sind ansonsten recht eklektisch nebeneinandergestellt. Als Ältester darf Johann Gottfried Herder in seinem lyrischen Angedenken an Neapel an die bukolische Sehnsuchtsphrase „Ich, auch ich war in Arkadien“ erinnern, während mit Jan Wagner (*1971), Nora Gomringer (*1980) und Nora Bossong (*1982) ein jüngerer Blick auf Italien geworfen wird. Dazwischen stehen bekannte und erwartbare Namen; neben viel Rilke – was jeder Lyriksammlung gut ansteht – tauchen aber auch unbekanntere und überraschendere Texte auf.
Unter den von Fricke versammelten Italienbegeisterten finden sich so unterschiedliche Figuren wie der wilhelminisch geprägte badische Dichter Heinrich Vierordt, der den nationalistischen Geist des Nationalsozialismus begrüßte, an dem der europäisch orientierte Eugen Gottlob Winkler jung zugrunde gegangen ist. Von ersterem findet sich mit Die Zikaden eine poetisch schwächere venezianische Bootsfahrt mit zwei der Insekten; letzterer beschreibt den kulinarischen Sinnenrausch in Italische Ankunft. Der norddeutsche Heimatdichter Hermann Allmers wiederum besingt in einem eher uninspirierten Gedicht Verona, während der dem preußischen Adel entstammende Franz von Gaudy Auf dem Lago Maggiore unterwegs ist. Als royale Überraschung tritt mit Tivoli. III. Elegie ein Gedicht aus dem umfangreichen, in vier Bänden erschienen lyrischen Werk von Ludwig I., König von Bayern auf (das allerdings nicht wie im Anhang angegeben im „Zweyten“, sondern im „Ersten Theil“ erschienen ist).
Die Anthologie lebt vom Kontrast der unterschiedlichen Texte, die mal altertümlich, mal gegenwärtig, mal ernster oder launiger den vielfältigen, übergenerationalen Charme Italiens für die deutsche Seele einfangen. Der Gegensatz von Heimat und Fremde zieht sich dabei durch viele Gedichte. Abschied von Isolde Kurz etwa präsentiert den zu Ende gegangenen Sommer in Deutschland als Intermezzo, bevor es die Sprechinstanz als „Schwälblein“ zurück nach Italien zieht, „Ins goldne Land, ins meine.“ Umgekehrt kommt man doch auch im sonnenverwöhnten Süden nicht von der Heimat los; der Fremde ist der Vergleich eingeschrieben – das muss nicht die Zeitungslektüre sein, die in dem gelungenen Gedicht Mittelmeer des expressionistischen Lyrikers Alfred Wolfenstein die sommerliche Schönheit kurz verfinstert. Es kann auch die Natur sein: Bei Georg Britting findet sich Bei den Tempeln von Paestum Löwenzahn, wie er auch auf bayerischen Wiesen blüht – generell ist das Referenzmaß des Komparativs die Herkunft, weshalb sich die sizilianischen Winde auch mit denen am Tegernsee vergleichen lassen müssen. Und manchmal ist es in Italien dann doch zu heiß, wenn zum Beispiel der Durst in Venedig, wie Joseph Victor von Scheffel weiß, die Sehnsucht in die andere Richtung lenkt: nämlich „Nach Heidelberg, nach Heidelberg, / Der Heimat kühlender Biere.“ Die aufgerufene Hitze in der Lagunenstadt wird bei diesem Text nicht mit einer Stadtansicht, sondern passenderweise mit einem Ausschnitt aus der Hölle von Hieronymus Bosch bebildert.
Andererseits, wenn man sich darauf einlässt, lösen sich in Italien die mitgeführten Muster und Strukturen in einer urtümlicheren Welt auf, wie etwa „[d]er Mann aus Deutschland, dunkel, denkensschwer,“ in Albrecht Goesʼ Gedicht Olévano, Blick auf Latium eine tiefgründigere Verbindung mit dem Leben erfährt: „Und die Zypresse wird mich Bruder nennen“. Auch in dem titellosen Gedicht Sarah Kirschs ist es die latinische Gemeinde Olevano nahe Rom, in der Natur und Zimmer verschmelzend zu einer Einheit werden: „Die Fenster / Flogen mit leichtem Flügelschlag weg.“ Das dumpf alliterierende deutsche Ich verbindet sich mit dem luftigen, hellen und unverbauten Sein.
Die von Hannes Fricke gebotene Auswahl eröffnet in der geographischen Anordnung eine vielfältige, bunte Sammlung unterschiedlicher Texte, in die man sich vertiefend einlesen kann, um selbst mit auf eine lyrische Italienreise genommen zu werden. Es dominiert nicht nur der hohe Ton, mitunter finden sich auch abgegriffene Phrasen, und auch nicht alle Bildmotive entstammen dem Katalog namhafter Pinakothekensammlungen. Dennoch, oder gerade deshalb, können sich unerwartete Verbindungen einstellen, die mitunter Jahrhunderte überspannen: wie bei dem Gedicht Ludwig Steinherrs, Abendszene, Verona von 2019, in dem das von ihrem Handydisplay erleuchtete Gesicht einer jungen Touristin schon textuell mit einem Gemälde von Georges de La Tour verglichen wird, um dann passend mit Junge Jungfrau Maria aus der Mitte des 17. Jahrhunderts sichtbar zu sein. Im Zusammenspiel von Text und Bild führt der schön gestaltete Band Reiseimpressionen aus unterschiedlichen Zeiten zusammen und kann dabei zu einer kulturellen Einstimmung auf den nächsten Italienurlaub werden.
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