Pop als Protest – aber wogegen genau?

Marcus S. Kleiner versucht sich an einer Bilanz des Verhältnisses deutscher Popsongs zu Politik und Gesellschaft

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das umfangreiche und in einen auffälligen festen roten Umschlag gebundene Buch ist in Kapitel gegliedert, die mit Zeilen aus Popsongs überschrieben sind. Nach einer autobiographisch gefärbten Einleitung lässt Kleiner vor allem die Zeit von 1968 bis heute Revue passieren, mit teils umfangreichen Ausflügen in die Geschichte des Schlagers vom Nationalsozialismus bis in die Wirtschaftswunderzeit. Um eine Geschichte des deutschsprachigen Popsongs handelt es sich allerdings nur bedingt, denn es bleibt durchweg eine subjektive Perspektive erkennbar; außerdem fehlt eine theoretische Fundierung, die für eine die Kulturwissenschaften adressierende Zusammenschau notwendig gewesen wäre. Der an Verweisen auf Songs und Lieder aller Art reiche Band präsentiert sich eher als eine Zusammenstellung von Titeln und Interpreten mit Hinweisen auf deren zeitgenössischen Erfolg, oft innerhalb der Kapitel in achronologischer Folge. Im Wortsinn augenfällig wird die subjektive Perspektive des Autors auf den Fotos, die dem Band beigegeben sind. Nach dem durchaus üblichen Autorenfoto auf der Innenseite folgen Fotos des Autors zusammen mit verschiedenen anderen Personen aus dem Pop-Feld auf weiteren Seiten im ganzen Band (bis S. 100: 19, 26, 41, 89), so als wollte Kleiner seine Expertise durch die Nähe zu diesen mehr oder weniger bekannten Interpreten besonders nachdrücklich beglaubigen.

Problematisch sind die zahlreichen pauschalen Feststellungen – der Verfasser ist oft nicht um Differenzierung bemüht. Die Kritik an „Lili Marleen“ als „Kriegsschlager“ ist zweifellos berechtigt, aber dass das Lied auch nach 1945 „den nationalsozialistischen Geist“, was immer man sich darunter vorzustellen hat, „weiterhin verbreitete“ (S. 84), dürfte zweifelhaft sein. Trotz seiner Instrumentalisierung durch die NS-Führung enthält der Text keine entsprechenden ideologischen Elemente. Eher schon wurde er zum Symbol für eine wehmütig erinnerte, alles andere als einfache Zeit des jungen Erwachsenenalters und leistete so ein Stück – durchaus problematischer – Trauerarbeit.

Noch abwegiger ist die Kritik an Udo Lindenberg: „Lindenbergs Traum von einem anderen Leben und einer anderen Gesellschaft entsprach den Regeln des Kapitalismus“ (S. 135). Diese Behauptung wird nicht belegt und dürfte auch schwierig zu belegen sein, man denke etwa an Lindenbergs großen frühen Erfolg „Alles klar auf der Andrea Doria“ von 1973, mit dem ja gerade die Auswüchse eines solchen ‚Kapitalismus‘, also eigentlich einer marktwirtschaftlichen ökonomischen Ordnung, mit den Mitteln der Satire kritisiert werden. Eher trifft das Gegenteil zu: Lindenberg avancierte zu einer Galeons- und Kultfigur der alternativen Bewegung der Nach-68er, die nach Alternativen zu einer, aus ihrer Sicht, umweltschädigenden Leistungsgesellschaft suchte. Dass Lindenberg auch noch mit Peter Maffay in einen gemeinsamen ‚Schlagernähe‘-Topf geworfen wird (S. 134), macht es nicht besser. Lindenberg und Schlager ist wie Senf und Schokolade – was die Fans des einen oder des anderen jederzeit bestätigen dürften. Dass er später auch durchaus marktgängige Songs gemacht hat, wird kaum dazu geführt haben, hartgesottene Schlagerfans zu Lindenberg-Hörern zu konvertieren.

Das für das Buch titelgebende Zitat, der Albumtitel „Keine Macht für Niemand“ von Ton Steine Scherben, wird hingegen als „Machtkritik und produktive Zerstörung“ gewertet, die sich „gegen den Kapitalismus“ gerichtet habe (S. 141). Dabei wird weder erläutert, inwiefern Zerstörung produktiv sein kann, noch wird erklärt, weshalb gerade hier eine produktive Zerstörung zu beobachten gewesen sein soll; selbst der sich radikalisierende linke Flügel der sog. Außerparlamentarischen Opposition hielt solche Songzeilen eher für Schaumschlägerei.

Zu einem Song von Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray heißt es dann: „Im Songtext wird Kritik an patriarchalen Strukturen und den damit verbundenen Erwartungen an Frauen formuliert“ (S. 304). Der Song „Ich bin ne Bitch“ ironisiert Stereotype von Männlichkeit und wirkt durch die Umcodierung des titelgebenden Schimpfworts zu einem positiven Begriff der Selbstermächtigung emanzipatorisch; ob damit nun generell die „patriarchalen Strukturen“ oder vielmehr bestimmte – schichtspezifische – Haltungen und Verhaltensweisen gemeint sind und inwieweit hier Kritik an „Erwartungen an Frauen formuliert“ wird, sei einmal dahingestellt; solche sehr allgemeinen Formulierungen verfehlen eigentlich die besondere Leistung des Songtexts.

Auch die Schlussbemerkung kann nicht unwidersprochen bleiben: „Die politische deutschsprachige Popmusik leistet seit den 1960er Jahren einen kontinuierlichen Beitrag zur Veränderung der politischen Debatte in Deutschland und damit zur politischen Veränderung von Deutschland“ (S. 412). Erstens sind in einem Land, in dem rund jede*r Vierte eine vom Verfassungsschutz als problematisch eingeschätzte Partei wählt und in dem es nachhaltige und aus Sicht der Wissenschaft notwendige Reformen, etwa für den Klimaschutz, immer noch schwer haben, die Erfolge kritischer politischer Popsongs wohl eher als bescheiden einzustufen; andererseits würde es den Anspruch von Songs als Kunst verfehlen, sie an ihrem politischen Erfolg zu messen.

Störend sind Stilfehler wie der falsche Superlativ „am besten bezahltesten“ (S. 84), aber solche Formulierungen fallen heute kaum noch auf, wenn man an populäre Radiosender denkt, die mit dem „aktuellsten Verkehrsservice“ werben.

Unterm Strich handelt es sich um eine durchaus anregende, wie gezeigt aber auch zum Widerspruch reizende Lektüre, die hoffentlich die weitere essayistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Leistungen der Popmusik der letzten Jahrzehnte weiter befördert.

Titelbild

Marcus S. Kleiner: Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland. Popmusik als Spiegel der Gesellschaft – Zeitgeschichte, Protestkultur und Popmusik.
Reclam Verlag, Stuttgart 2025.
462 Seiten , 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783150114643

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