Die Entstehung des politischen Nationalismus im 15. Jahrhundert

Hans Peter Herrmanns letztes Buch „Identität und Machtanspruch“ besticht inhaltlich und argumentativ

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts wurde einhellig die Meinung vertreten, der aggressive Nationalismus, der zu Kriegen um die Hegemonie führte, sei in der Französischen Revolution entstanden. Davor habe es lediglich einen kulturellen Nationalismus gegeben, denn das Konzept setzt Nationen voraus, die sich in Mitteleuropa über die Territorialfürstentümer und im Süden und Westen Europas erst allmählich mit dem Kolonialismus bildeten.

Diese These ist ins Wanken geraten. „Die grundsätzliche Trennung zwischen einem mehr oder weniger militanten, politischen und einem eher friedlichen, kulturellen Nationalismus“ hat sich als „wenig ergiebig“ erwiesen. „Das Politische und das Kulturelle sind im Nationalismus nicht voneinander zu trennen“. Das Thema ist angesichts des weltweit erneut aufkommenden Nationalegoismus aktuell, es besteht ein gesteigertes Interesse an Aufklärung über die Vorgeschichte des aggressiven Nationalismus.

Hans Peter Herrmanns Buch Identität und Machtanspruch geht diesen Frühformen nach. Es hat eine Vorgeschichte. Der Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte trug in den 1990er Jahren deutsche literarische Texte mit aggressiven nationalistischen Formulierungenzusammen – zum Beispiel von Klopstock, Gleim und den Hainbund-Dichtern – und veröffentlichte diese in Aufsätzen und einem Sammelband mit dem Titel Machtphantasie Deutschland (1996). Die Quellentexte stammen vorwiegend aus dem letzten Drittel des 18 Jahrhunderts.

Die Geschichte des deutschen Frühnationalismus

Das Buch  „über die Geschichte des deutschen Frühnationalismus um 1500“ bemüht sich dabei um die Entwicklung des Begriffs der deutschen Nation zwischen der Mitte des 15. und der des 16. Jahrhunderts, die es an politischen Texten und an Dichtungen zeigt. Eine Stärke des Buches liegt in der knappen, informativen Darstellung der Begriffsgeschichte von ‚Nation‘, ‚patria‘ oder ‚germanisch‘.  Herrmann plädiert dafür, die mittelalterlichen Begriffe für „deutsch“ nicht von der späteren Geschichte des Nationalismus her zu bewerten. „Ein ‚Deutscher‘ zu sein, […] definierte keine eigene soziale Gruppe mit selbständigen Eigenschaften.“ Das gleiche gilt für den Begriff der Nation: „Mit natio germanica war ursprünglich eine bestimmte Gegend gemeint, aus der ein Scholar oder Magister kam“. „Die neuzeitlichen Einteilung der Welt in nationes hingegen war dem Mittelalter fremd.“

Forschungen zur frühen Neuzeit haben sich auf den Begriff „Volk“ bei der Entstehung des deutschen Nationalismus konzentriert. Herrmann geht dagegen der Verwendung des Begriffs „deutsch“ nach und trägt die Belege im Mittelalter zusammen. Sein Resultat: „Die sprachliche Abfolge“ von tuischi zunge (Walther von der Vogelweide 1198) über tuische lant (Anfang 13. Jahrhunderts) zu tutschland für römisch riche (1341) „spiegelt die Entwicklung, in der sich seit dem 11. Jahrhundert der mittelalterliche Personenverbandsstaat zum modernen Flächenstaat mit seinen sachlich-rechtlichen Beziehungen befunden hat.“ Anders aber als in Frankreich haben „die adeligen Führungsschichten“ in Deutschland „bis ins 15. Jahrhundert kein eigenes, vom Imperiumsbezug unabhängiges, nationales Identitätsbewusstsein ausgebildet.“ Wie Johannes Fried 2015 urteilt auch Herrmann: „ein affektiv besetztes Deutschland gab es nicht.“ Gegen die vorliegenden Forschungen und Geschichtsschreibung versteht er den Frühnationalismus „als den Beginn einer durchgehenden Geschichte nationalistischer Bestrebungen von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis heute.“

Dabei unterscheidet er zwischen mehreren Stufen. Nach ersten Zeugnissen in der Mitte des 15. Jahrhunderts kommt es 1500 zu einer ersten öffentlichen Debatte um die deutsche Nation. Dann folgt der Religionskampf, in dem protestantische Publizisten um 1520 „ihr Werben für die Reformation mit der Wunschphantasie von einer deutschen Nation“ verbanden, „die gegen den italienischen Papst in den Krieg zieht.“ Die gestiftete Verbindung von Protestantismus und Nationalismus prägte fortan die deutsche Geschichte. Die nächste Stufe, die Rhetorik in den protestantischen Kriegsliedern des Schmalkaldischen Krieges 1546-47, verschärft den Ton.

Drei Texte aus der Mitte des 15. Jahrhunderts

Ganz neu sind Herrmanns Wertungen von drei Texten aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die als Zeugnisse der Geburtsstunde des aggressiven Nationalismus gelten.

Die Frankfurter Rede von Enea Silvio Piccolomini ist neben Jakob von Siercks Abschiedt und den Gravamina das dritte Dokument aus den Jahren 1452-56, das von den Anfängen des politischen Nationalismus in Europa berichtet.

In dem heftigen Beschwerdebrief des Trierer Erzbischofs Jakob von Sierck (1398-1456) an Friedrich III. von 1452/53, dem Abschiedt zwischen Geistlichen Churfürsten, mit waß mittel das Rom. Reich wieder aufzubringen wäre, wird „ein wertbesetzter, politischer Identitätsbegriff

von Nation verwendet. Damit verbunden ist die Suprematie der deutschen Nation: „eigentlich sei unsere nacio meyster vber alle andere nacion, so uerre [in so fern = dann, wenn] sie in rechter ordenunge und Regiment ist.“

Bei den „Gravamina nationis germanicae (auf Deutsch 1461 als beswernus Deutsche lant [Plural!]), eine lange Liste von Übergriffen der Kurie auf das weltliche Recht der Deutschen“ aus dem Jahr 1456 passiere das auf ähnliche Weise. Drittens wurde nach Herrmann „zum ersten Mal die Phantasie vom affektiv besetzten, kollektiven Körper einer deutschen Nation formuliert“, als der päpstliche Gesandte Enea Silvio Piccolominis am sogenannten am sogenannten „Türkenreichstag“ vor den versammelten Ständen in Frankfurt um Unterstützung im Kampf gegen die Türken warb. „[D]as hohe Gut ‚unserer‘ Nation [erlaube] jede Form der moralischen Disqualifikation ihrer Feinde“. Enea Silvio Piccolominis Rede gilt heute als Beginn des Begriffs Europa „für das Gebiet und die Völker der abendländischen Christenheit“, der aber in der frühen Diskussion über den Nationalismus keine Rolle spielt. Obwohl er also „zu einem globalen politischen Deutungsmuster“ geworden war, blieb der politische Begriff von Nation auch im späten 15. Jahrhundert noch „eine Kategorie zweiten Grades“.

Die Nationalismuskonzeption war von Anfang an umstritten und widersprüchlich. Erasmus von Rotterdam zum Beispiel lehnte es entschieden ab, sich als Deutscher zu bekennen. „Die konzeptuelle Fragwürdigkeit des Nationalismus war bereits in der Phase seiner Entstehung zu erkennen.“ An Konrad Celtis und Ulrich von Hutten, den beiden führenden Publizisten in der Debatte, zeigt Herrmann im Anschluss die  Entwicklung in den ersten beiden Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts. In  der Heranziehung der Dichtungen der beiden liegt eine der Stärken von Herrmanns Buch. In dieser von Humanisten geführten Diskussion spielt die Rede über die Germanen als Vorläufervolk der Deutschen eine große Rolle. Ein signifikantes Beispiel ist Tacitus‘ „Germania“ vom Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, deren Neuausgabe Konrad Celtis 1498 und 1500 mit einem Gedicht von 284 Versen einleitete, der „germania generalis“ die  „die erste moderne Deutschlandbeschreibung seit Tacitus“ beinhaltet. Die Germania-Verszeilen wiederholte Celtis in seinem Buch Amores von 1502 und veranschaulichte so seine Vorstellung von der deutschen Nation:

Konrad Celtis beschreibt die Germanen mit affektiv besetzten Körperphantasien, er imaginiert sein Germanien als einen geschlossenen deutschen Kollektivkörper, der durch fremde Eindringlinge von außen bedroht wird – das von Tacitus beschrieben Germanien als Projektionsraum für die Wunschvorstellung von einem geschlossenen, eigenen Vaterland.

Der Text hatte eine enorme Wirkung und wurde bis ins 17. Jahrhundert vielfach neu aufgelegt. Herrmann interpretiert die Quellen als Zeugnisse der kontinuierlichen Geschichte des aggressiven politischen Nationalismus. Celtis‘ „42 Verszeilen in seinem Eingangsteil über die Germanen können als die Geburtsurkunde des deutschen Germanenmythos bezeichnet werden, der die Geschichte des deutschen Nationalismus bis in die Gegenwart bestimmt.“

Es waren Texte, die ihre Leser zur gewaltsamen Verteidigung teutscher nation gegen Katholiken, Spanier und Franzosen (Welsche) aufputschen sollten – mit dem Erwecken von Hass auf die Gegner und mit einem Arsenal topischer Feindvernichtungsbilder, die von nun an zur Tradition des Nationalismus gehörten.

Das auf das alte Germanien projizierte „Wunschbild einer von allen Schäden der Gegenwart freien, idealen Gesellschaft“ wurde erst bei den Nachfolgern, etwa Albert Krantz oder Ulrich von Hutten, zum Topos.

 Anfangs habe nacion eine territoriale Zugehörigkeit bezeichnet, dann sei die Sprache als Merkmal der Gemeinsamkeit hinzugekommen, später die Kultur allgemein. Die Figur des Feindes sei seit Celtis „fester Bestandteil und besonders auffälliges Merkmal des kulturellen Nationalismus“. Hutten, auf den die Glorifizierung von Arminius zurückgeht, „hat die integrativen Momente des Humanisten-Nationalismus mit der aggressiven Gewalt- und Kriegsbereitschaft des politischen Nationalismus verbunden“. In der „jungen Entwicklungsgeschichte des deutschen Frühnationalismus“ steht Celtis „an ihrem Beginn, Hutten markiert ihr Ende“. Der reale Hintergrund ist – und das ist signifikant – kein etablierter deutscher Nationalstaat; nacion und patria waren bei den Humanisten „imaginierte Gebilde“.

Herrmann bevorzugt die Begriffe „Deutungsmuster“, „Identität“, „Gemeinschaft“ und „Erzählung“, er schreibt „Frühnationalismus“ und nicht „Protonationalismus“. Damit lehnt er zu Recht das Modevokabular wie Diskurs, Narrativ, performativ und Paradigmenwechsel ab.

Die kollektive Identität

Der Buchtitel eröffnet mit „Identität“ die Diskussion über die psychologische Seite des Nationalismus. „Huttens Texte arbeiten an der literarischen Fabrikation eines Kollektivsubjekts von alles überragender Größe und Macht.“ Herrmann erörtert den Begriff der Identität nicht systematisch, sondern lehnt sich an psychoanalytische Kategorien und Begriffe aus der neueren Narzissmusforschung an. Zu Celtis formuliert Herrmann: „Das Vaterland war bei ihm ein hoher, libidinös besetzter Wert.“  „Das Konzept einer eigenen deutschen Nation war eine beachtliche Größenphantasie.“ 

  Die Debatte über die Psychologie des Nationalismus wurde durch Ulrich Bielfeld 1998 in die Nationalismusforschung eingeführt. Der Begriff, der „kollektiven Identität“ stammt aus der US-amerikanischen Forschung der 1980er Jahre und ist nach Herrmann „unverzichtbar geworden.“ (S. 21) Der Begriff ist sehr komplex und bedarf in den nächsten Jahren weiterer Diskussion, weil mehrere Prozesse sich gegenseitig beeinflussen: Mit der Unzulänglichkeit der biblischen Welterklärung verschwand die Verbindlichkeit des christlichen Gottes als unantastbarer Repräsentant des Über-Ich. Mit dem Wandel des Subjekts vom außengeleiteten zum innengeleiteten Charakter mussten neue Autoritäten zur Stabilisierung des Individuums gefunden werden. Mit der religiösen Besetzung des Vaterlandes wurde der Repräsentant des Über-Ich abstrakter. Die Nation trat an die Stelle Gottes, auch als moralisches Regulativ für die Tugenden der Ein- und Unterordnung, der Bereitschaft, sein Leben für die Nation einzusetzen. Aufgrund des Zerfalls der alten sozialen Gemeinschaften durch das neue System der Konkurrenz mussten neue Solidargemeinschaften geschaffen und gepflegt werden. In die Vorstellung von Nation und Patria flossen alle Wünsche nach solidarischem Handeln. Krieg war nicht allein Eroberung und Verteidigung, sondern gelebte Solidarität. Auch ist unbestreitbar, dass der Dienst am Vaterland Einschränkungen, Gehorsam, Arbeit und Opfer verlangt, die mit der Vergrößerung der eigenen Bedeutung und damit Steigerung des Selbstgefühls einhergehen und aufgewogen werden.

Herrmanns thematisiert auch den Wandel dieser Identifikationen. In Siercks Abschiedt habe sich beispielsweise der Begriff Nation eklatant verändert: „Aus einem neutralen geographischen Ordnungsbegriff war damit ein wertbesetzter politischer Identitätsbegriff geworden.“ Für die Humanisten gilt: „Dass es in der Welt der Nationen eine eigene gibt und dass ‚ich‘ ihr angehöre, ist ein zentraler Aspekt bei der Faszination, die der Nationalismus erzeugt.“ In das Kollektivsubjekt gehen „frühe, bis in unsere Gegenwart reichende Konzepte individueller Subjektkonstitution“ ein. Deutlich wird: Kollektive Identität geht nicht ohne eine individuelle. Vom Subjekt aus gesehen haben Identifikationen – besonders diejenigen, die dauerhaft sind und zum Kernbestand des handelnden Menschen gehören – zwei Seiten: die Unterordnung unter eine Autorität und die Vergrößerung der eigenen Geltung. Beides sind im Grunde gegenläufige Vorgänge, die aber zusammengehören.

Dass Nation und Vaterland so stark Identifikationen auslösten, hat neben der realen Notwendigkeit, die eigene Existenz in Freiheit zu sichern, auch mit der sprachlich kulturellen Besonderheit zu tun. Die Literaturen wurden national und repräsentierten eine eigene, gegenüber anderen Nationen sich unterscheidende kollektive Nationalkultur.

Das Subjekt und die Wissenschaft

Identität und Machtanspruch ist ein großer Wurf, ein Beispiel für eine vorbildliche Geschichtsschreibung, bestechend in seinen Thesen, in seiner Beweisführung und in seinem Darstellungsstil. Herrmann tritt nicht als allwissender Historiker auf, sondern er beschreibt den Werdegang seiner Aneignung des Themas, er benennt seinen Anspruch und die Grenzen, aus der sich Aufgaben für die nächsten HistorikerInnen ergeben. Die Darstellung der vorliegenden Publikationen ist lesefreundlich, und zeigt, von wo aus Herrmann argumentiert – hermeneutisch unverzichtbare Voraussetzungen des erkennenden Subjekts, die aber leider selten genannt werden.

Das Buch ist mit Bildern gestaltet, die die Interpretation historisch veranschaulichen. Celtis‘ Germania generalis-Text wird in beiden Fassungen, der Tacitus-Ausgabe und in der Widmung zu den vier Büchern Liebesgedichte „Amores“ faksimiliert eingefügt. Aussagekräftig ist auch Albrecht Dürers Holzschnitt von 1502, in dem Konrad Celtis Kaiser Maximilian ein Exemplar der Amores überreicht. „Das Bild kann als ein Zeichen der Einheit von politischem und kulturellem Nationalismus gelesen werden.“ Die Titelgraphik der „Amores“ mit dem symbolischen Kranz um die vier Weltteile, die vier Himmelsrichtungen, die vier Grenzen Germaniens mit Rhein, Donau, Weichsel und Ostsee, mit dem Mittelpunkt Böhmen und der Elbe, wo Celtis die letzten Jahre verbrachte, zeigt anschaulich Celtis‘ nationalistische Vorstellungen. Die für den Buchtitel ausgewählte farbige Darstellung Maximilians I. als Germania-Personifikation des Deutschen Reiches aus der Altdorfer-Schule um 1512 bezeugt die Bedeutung des Nationalismus. Im Anhang sind transkribierte und übersetzte Texte von Celtis und Hutten abgedruckt.

Ich habe leider mit dem Erscheinen meiner Rezension zugleich den Tod des Autors zu beklagen. Dem Buch ist eine engagierte Nachwirkung zu wünschen.

Titelbild

Hans Peter Herrmann: Identität und Machtanspruch. Deutscher Frühnationalismus um 1500?
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
176 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783835354746

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