Außerordentliche Figuren

Ralf Konersmanns brillante Betrachtungen des Außenseiters

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Außenseiter hat auch schon bessere Tage gehabt. Der Begriff ist als Lehnwort aus dem Englischen um 1900 in die moderne Welt des Sports gewandert. Outsider: Das sind die, die ohne echte Siegeschance ins Rennen oder in den Ring gehen. Aber wer definiert den Status derer, die trotz schwacher Startbedingungen fit für den Erfolg sind? Aus welcher Perspektive wird das gesehen? Und wie werden, meist aus abgrenzender Sicht, Relevanz und Akzeptanz des Außenseiters bestimmt?

Semantischer Abstieg der ‚Querdenker‘

Ralf Konersmann hat dazu einen fulminanten philosophischen Essay geschrieben. In sechs kundigen Kapiteln gelangt er zu Ein- und Aussichten, die uns zeigen, aus welchen Denkmilieus der Begriff kommt und wozu seine Verwendung in wissenschaftlichen und in öffentlichen Kontexten taugt. Besonders kann man die zunehmende Verschlechterung der Begriffsbedeutung an dem verwandten Wort des „Querdenkers“ festmachen. Konersmann macht für die rasante semantische Verschiebung dieses Begriffs ein nostrifizierendes „Wir“ verantwortlich, das seine anpassungsbereite, urteilsfreudige und besitzergreifende Macht ausnutzt, um sich von denen abzugrenzen, die andere Meinungen vertreten. Während der Corona-Pandemie wurden Impfgegner, Maskenverweigerer und Krisenleugner als „Querdenker“ bezeichnet. Aber auch schon vorher gab es Formate einer Abtrennung der Gemeinschaft vom Außenseiter. Volker Brauns Gedicht Mein Eigentum, das zwei Monate vor der deutschen Wiedervereinigung (1990) entstand, entwirft das dichterische Rollen-Ich aus der nunmehr ehemaligen DDR im Kontrast zu denen, die ihm das materielle und womöglich auch ideelle Eigentum nehmen könnten: „Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle. / Wann sag ich wieder mein und meine alle.“ Im Schlussvers kommt das Scheitern der sozialistischen Utopie einer Verschmelzung von Ich und Wir in ‚Allen‘ zum Ausdruck.

Negative Unzugehörigkeiten

Hans Mayer hatte in seinem bahnbrechenden Groß-Essay von 1975 am Außenseiter das Scheitern der bürgerlichen Aufklärung illustriert und vom intentionalen Außenseiter der antiken Welt (Prometheus, Antigone, Medea) den existentiellen Außenseiter (vom biblischen Judas über Schillers Jeanne d’Arc, Hebbels Judith und Wildes Dorian Gray bis zu Leo Trotzki als einem „Genossen Shylock“) abgegrenzt. 

Darum geht es Ralf Konersmann nicht. Er hat sich zunächst die Tücken des Worts angeschaut. Der Begriff „Außenseiter“ verklärt seine eigene Anschaulichkeit. Denn so klar und deutlich der Begriff seine räumlichen Teile ausstellt, so verdeckt ist das, was den Außenseiter zu einem solchen macht. Das ‚Außen‘ wird von einer Seite aus festgelegt, die sich ‚drinnen‘ wähnt. Aus dieser Masterposition einer Mehrheit mit Definitionshoheit werden Loyalitäten auf ein Ganzes übertragen. Wer ‚Außenseiter‘ ist, das ist insofern eine Frage von negativer Unzugehörigkeit und zugleich von Außerordentlichkeit. Besonders spannend wird es in dieser Topographie von vermeintlichen Randexistenzen, wenn die Außenseiter vom Außen und Drinnen wechseln und uns, auf komische oder tragische Weise, ihr Wissen um ihr Außenseitertum präsentieren: wie der klassische Aussteiger aus der platonischen Höhle, dessen Einstieg in die Philosophie zugleich ein Aussteigen aus der „Nestwärme allgemein geteilter Überzeugungen“ ist; wie der lächelnde Laie in den Dialogen des Nikolaus von Kues, der seinen Sonderstatus als Unwissender weder bejammert noch verleugnet, sondern auf sein autonomes Denken baut; wie der Dandy und der Tramp aus Literatur und Film, deren Ort die Muße ist; wie die Bad Boys und Bad Girls der Popkultur, die sich außerhalb der Ordnung besingen. Sie werden durch den Markt der Aufmerksamkeitsökonomie zur Marke gemacht. Der rebel without a cause ist spätestens seit dem gleichnamigen Coming-of-age Melodram mit James Dean (1955) ein Branding des Außenseiters, der die Norm verletzt, die Ordnung stört und damit die Regeln der ihr Miteinander beschwörenden Gemeinschaft in Frage stellt. 

Wenigstens anders denken 

Konersmanns Kapitel halten an Wegmarken der Ideengeschichte inne. Rousseaus Bekenntnisse (postum 1782) inszenieren die Absonderung vom Mainstream und kehren den prüfenden Blick der Autoritäten so um, dass nun der Außenseiter es ist, der die Regeln zerbrechen lässt, mit denen Außeninstanzen über ihn urteilen. Durch seine Konfession, „wenigstens anders“ zu sein, gewinnt der Homme solitaire im kantischen Sinne „Herrschaft über sich selbst“ und kann sich selbst genug sein. Gegen Rousseaus Optimismus steht Voltaires Candide (1759) mit einem „post-metaphysischen Pragmatismus, der die Abweichung als Verirrung tadelt“ und auf den Ruf der „Weisheit auf den Straßen“ zu hören rät.

Wozu ist also der Außenseiter gut? Konersmann zeigt das in einer einsichtigen Bildanalyse von Raffaels Die Schule von Athen (1511/12). Da sehen wir, exakt in der Bildmitte und im zentralen Lichtkegel, die Philosophen Platon und Aristoteles aus einem Torbogen tretend, schwere Folianten haltend, umringt von einer Schar zuhörender Mitdenker. Zwei Stufen unter ihm sitzt eine merkwürdige Gestalt, halbnackt mit abgeworfenem Obergewand, vom Geschehen, abgewandt, auf einem Blatt lesend, rechts neben ihm eine Trinkschale – offensichtlich eine Stolperfalle für die Meisterdenker im Diskurs über ihm. Der Schatten, den dieser Philosoph wirft, ist der eines Andersdenkenden. Es ist Diogenes, und sein Denken ist als zynische Vernunft bekannt, als „Sache des rechten Abstands“ (Walter Benjamin), als „unglückliches Bewusstsein“ (Peter Sloterdijk). Mit einem solchen Verzicht auf Clubdenken, Rollenzwang und Konsensdruck hat der, der bereit ist, sich zum Außenseiter erklären zu lassen, einiges gewonnen. 

Ralf Konersmanns Buch gewinnt auf jeden Fall: durch die Anschaulichkeit der herangezoomten Beispiele, sein freimündiges Denken, seine Einladung, aus der „Höhle des Jargons herauszutreten“, nicht zuletzt auch durch die Form des Essays, der sich auf höchst geschickte Form als ‚Außenseiter‘ der philosophischen Theorie darbietet. Ein sehr lesenswertes Denkbild über die Geschichte(n) von Außen und Drinnen, eine erhellende Topographie der Denkabweichung.

Titelbild

Ralf Konersmann: Außenseiter. Ein Essay.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2025.
160 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783103976298

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch