Lauter Blumen und Leichen und am Ende die Revolution

Christine Wunnicke, Expertin für historische Romane, geht in „Wachs“ den Lebensspuren zweier erstaunlicher Frauen im Paris des 18. Jahrhunderts nach und erzählt nebenbei von einem Feminismus avant la lettre

Von Nora EckertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Eckert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die beiden in Paris geborenen Frauen aus Wunnickes Roman haben dort tatsächlich gelebt und erlangten zu ihrer Zeit eine gewisse Berühmtheit: Madeleine Basseporte (1701–1780) und Marie Bihéron (1719–1795). Die Ältere war Malerin, spezialisiert auf Blumen, die Jüngere machte sich einen Namen als Anatomin, die früh damit begann, Leichen zu sezieren, und schließlich Wachsmodelle des menschlichen Innenlebens anzufertigen. Und so beginnt der Roman ebenso schaurig wie bizarr an einem Abend im November des Jahres 1733.

Eine kleine Person ist auf dem Weg zu einer Kaserne. Die kaum zwölf Jahre alte Marie hatte gehört, Leichen bekomme man beim Militär. Also fragt sie die nicht wenig überraschten Offiziere, die Marie bei einem Saufgelage gerade stört, ob sie ihr eine Leiche verkaufen könnten. Sie könne auch gleich bezahlen, versichert sie. Am liebsten wäre ihr, eine Subskription für den ganzen Herbst und Winter. Die Offiziere wissen nicht, wie ihnen geschieht und sind darüber sprachlos. Die Sache ist aussichtslos, also zieht sie unverrichteter Dinge wieder ab.

Marie, die Tochter eines Apothekers, will einfach nur die menschliche Anatomie studieren und dazu braucht sie Leichen zum Obduzieren. „Ich muss die Natur erst zerschneiden“, erklärt sie der Mutter, die ihrer Tochter stattdessen Zeichenunterricht empfiehlt, wodurch sie die Bekanntschaft mit Madeleine Basseporte macht, bei der sie das Zeichnen lernen soll. Die Mutter meint, mit dem Zeichnen nach Natur lasse sich gutes Geld verdienen. Doch Maries Talent liegt anderswo, wie sich zeigen wird.

Das Zeichnen lässt sie gerne sein, doch von der Zeichenlehrerin kommt Marie nicht mehr los. Und weil die Anziehung erwidert wird, schnappt sich Marie, frech und bestimmt wie sie ist, während einer Taufe für sich und Madeleine ein Stück von dem priesterlichen Segen. Damit besteht ihre Ehe nun ebenso vor Gott. Schon dieser Coup illustriert, wer in der Beziehung der beiden Frauen die treibende Kraft ist – Marie. An einer Stelle bekennt sie: „Ich habe einen starken Willen […]. Man kann sich meiner schlecht erwehren.“

Aber Madeleine hat gar nicht die Absicht, sich dieses Dickkopfs zu erwehren. Der außerdem davon überzeugt ist: „Ich werde der beste Anatom von Paris.“ Im Gegenteil, im Leben muss man sich nicht suchen, um sich zu finden. Dennoch steht die Frage im Raum: „Welches Ehepaar sind wir? Wo treffen wir uns, zwischen Sommer und Winter, zwischen Pflanze und Tier?“

Weil in der Tat die anatomische „Zergliederungskunst“, die Marie mit Perfektion beherrschte, im Laufe des Jahrhunderts in Mode gekommen war, floriert das Geschäft mit den Wachspräparaten. In London ist man ganz verrückt danach und auch in Versailles erfreuen sie sich größter Beliebtheit. Der berühmte Aufklärer und Enzyklopädist Denis Diderot, der als Nachbar der beiden auftritt, fragt sich sogar, ob den so lebensecht aussehenden Wachsfiguren durch ein wenig Elektrizität möglicherweise Leben einzuhauchen sei. Diese Idee fand wiederum bei den nachfolgenden Romantikern Anklang, was Mary Shelleys Bestseller-Roman Frankenstein von 1818 bezeugt.

Wie Christine Wunnicke das alles erzählt, macht diesen Roman zum reinen Lesevergnügen – und es ist vor allem Marie, die uns in ihren Bann zieht wie es zuvor schon jener Liebhaberin hinreißender Blumenarrangements geschah und die zugleich ein ganz anderes Naturell in die Geschichte einbringt. Trotz aller Skurrilität und all den Bizarrerien um Maries vom Odeur verwesenden Fleischs umwehte Leidenschaft für das Zergliedern menschlicher Leiber und das spätere Kopieren in 3D und in Wachs, bleibt die Autorin nicht nur erzählerisch bodennah mit Sinn fürs Atmosphärische, sondern besitzt ein ebenso feines Gespür für die Schrullen des Menschlich-Allzumenschlichen. Was wiederum Witz und Ironie garantiert.

Marie, inzwischen Witwe und dazu eine alte Frau geworden, erlebt noch den Geist der Revolution, von dem sie keine gute Meinung hat. Denn, so ihre Frage, was hat die Revolution dem Volk gebracht? „Weiß der Kuckuck […] warum die Beschwernis nicht langsam verschwindet. Sie haben uns das Blaue vom Himmel versprochen.“ Um die im Dauerbetrieb befindliche Guillotine macht sie einen großen Bogen, die ihr wie ein hochkant stehendes Cembalo erscheint. Wie dieser Apparat wohl arbeiten mag, fragt sie sich? Aber sie fragt sich auch, wo die Kraft herkomme, die sie noch im Leben hielt. Sie vermutet das geheimnisvolle Gehirn als Quelle, das wohl an der Seele klammere. Am Ende hänge alles mit allem zusammen, so die kleine Philosophin. Die Autorin fasst es so zusammen: „Marie rannte durchs Leben. Madeleine wurzelte darin. Und an beiden zog es vorbei.“

Titelbild

Christine Wunnicke: Wachs.
Roman.
Berenberg Verlag, Berlin 2025.
176 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783911327039

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