Menschliche Kommunikation und künstliche Intelligenz
Karen Gloy veranschaulicht exzellent die Macht menschlicher Ausdrucksweisen und die Umwälzungen durch KI
Von Jitka Perina
Karen Gloys Buch Von der Oralität über die Literalität zur Künstlichen Intelligenz bietet nicht nur eine vielschichtige Übersicht der Kulturgeschichte menschlicher Kommunikation, sondern zugleich eine tiefgründige philosophische Reflexion über unsere gegenwärtige digitale Revolution. Mit klarem Blick für Zusammenhänge zeichnet die Philosophin eine überzeugende historische Linie von der unmittelbaren, emotionalen Kraft des gesprochenen Wortes über die Rationalität der Schriftkultur hin zur Fiktionalität und Virtualität der Ära der Künstlichen Intelligenz.
Besonders hervorzuheben ist Karen Gloys Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge verständlich zu machen, ohne dabei die Tiefe der philosophischen Analyse preiszugeben. Das Buch ist klar strukturiert: Es beginnt mit der Oralität, jener prägenden Phase menschlicher Interaktion, die durch Unmittelbarkeit und flüchtige Wirkkraft gekennzeichnet ist. Die Autorin beschreibt anschaulich, wie Sprache und Körperlichkeit in dieser Phase ineinandergreifen und ein lebendiges Ganzes bilden, was einen wichtigen Beitrag zum Verständnis heutiger Kommunikationsweisen leistet.
Eindrucksvoll detailliert entfaltet Gloy ihre Betrachtung der Auswirkungen der oralen Kultur auf die sozialen Zusammenhänge. Sie zeigt auf, wie das gesprochene Wort spezifische Denkweisen, Weltbilder und soziale Strukturen geprägt hat. Gloy betont, dass in diesen Gesellschaften der Gemeinschaftssinn vorherrschte und die Familie eine zentrale Funktion innehatte: Das Wissen wurde mündlich überliefert, was Gedächtnistechniken und Rituale unverzichtbar machte. Gerade hierin offenbart sich laut Gloy die immense soziale Bedeutung der Alten als kulturelle Autoritäten und Träger des kollektiven Gedächtnisses. An historischen Beispielen wie den memorierten genealogischen Abfolgen bei indigenen Völkern oder Gesängen und Beschwörungsritualen aus dem Alten Orient illustriert die Autorin überzeugend die kulturelle Tiefe und gesellschaftliche Bedeutung mündlicher Kommunikation.
Den Übergang zur Literalität schildert Gloy ebenso präzise wie spannend. Ihre Unterscheidung zwischen der skriptographischen, typographischen und elektronisch-virtuellen Phase erweist sich als methodisch fruchtbar und lässt klar erkennen, welche massiven Veränderungen Schriftlichkeit im menschlichen Denken und Handeln bewirkt hat. Mit gut gewählten historischen Beispielen wie etwa mesopotamischen Gesetzestexten, die sowohl normierende als auch kontrollierende Funktionen innehatten, veranschaulicht Gloy eindrucksvoll, wie Literalität zur Grundlage komplexer Gesellschaftssysteme wurde. Besonders hervorzuheben ist, wie sie die Entwicklung der Schriftkultur nicht nur als technischen Fortschritt darstellt, sondern zugleich als Transformation von Machtstrukturen und sozialer Ordnung analysiert.
Im Abschnitt über die künstliche Intelligenz gelingt Gloy eine nahtlose Verbindung historischer und philosophischer Perspektiven mit aktuellen Debatten. Ihre Reflexionen zum Turing-Test und Searles „Chinesischem Zimmer“ werden neu und auf das aktuelle Thema bezogen interpretiert, indem Gloy deren zentrale philosophische Fragestellung – was es bedeutet, ein Mensch zu sein – prägnant herausarbeitet. Besonders überzeugend sind ihre Betrachtungen zur emotionalen Intelligenz anhand des Films „Her“ von Spike Jonze. Gloy öffnet hier Perspektiven auf die Grenzen zwischen authentischen menschlichen Emotionen und ihrer Simulation durch künstliche Systeme. Besonders hinsichtlich der ethischen Implikationen einer immer besser simulierten emotionalen Interaktion zwischen Mensch und Maschine könnte eine weitere, noch tiefere Auseinandersetzung interessant sein.
Das Kapitel „KI: Segen oder Fluch der Menschheit?“ stellt den Höhepunkt des Buches dar. Gloy begegnet der Thematik differenziert und tiefgreifend, ohne in apokalyptische oder technikverliebte Extreme abzudriften. Sie analysiert sorgfältig, wie KI die Gesellschaft und Ethik radikal verändert und macht nachvollziehbar, weshalb es dringend notwendig ist, diese Veränderungen philosophisch und politisch reflektiert zu begleiten. Die Diskussion gesellschaftlicher Machtverschiebungen und die Frage politischer Verantwortung sowie demokratischer Kontrollmechanismen werden fundiert behandelt. Auch hier liesse sich vertiefend diskutieren, wie konkrete politische Institutionen und gesellschaftliche Mechanismen aussehen könnten, um die ethischen Herausforderungen im Zusammenhang mit Einsatz der KI gezielt zu adressieren.
Die Autorin führt den Leser mit innerem Gespür und Gefühl gleichermassen behutsam und konsequent zur Unterscheidung von natürlicher und künstlicher Emotionalität und Intellektualität. Die Frage, ob KI zu echten Gefühlen gegenüber dem Menschen fähig ist, bleibt unbeantwortet. Der vorausblickende Vorschlag im Hinblick auf die KI-Entwicklung lautet, den cartesianischen Dualismus zu verlassen, von einer Einheit und Identität von Geist und Materie auszugehen und über diesen Schritt nachzudenken.
Die stilistische Klarheit und Eleganz von Gloys Sprache macht das Buch sehr angenehm und gewinnbringend zu lesen. Dabei bleibt ihre Leidenschaft für das Thema stets spürbar, was das Leseerlebnis weiter intensiviert. Diese Kombination aus persönlicher Nähe zum Stoff und intellektueller Klarheit gehört zu den grossen Stärken der Autorin, deren gesamtes Werk ich seit langem schätze.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Karen Gloy mit Von der Oralität über die Literalität zur Künstlichen Intelligenz nicht nur ein exzellentes philosophisches Werk geschaffen hat, sondern auch einen wichtigen kulturhistorischen Beitrag liefert, der zentrale Fragen unserer Zeit verständlicher macht. Das Buch regt zu weiterem Nachdenken und Diskussionen an und bietet wertvolle Impulse nicht nur den Kreisen der Philosophie, sondern auch einem allgemein interessierten und gebildeten Publikum. Es ist ein herausragendes, lesenswertes Werk, das man nicht nur studieren, sondern mit Genuss lesen kann.
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