‚Wir‘ und ‚die Anderen‘
Mit „Zuhause ist anderswo“ legen Susanne Mauthner-Weber und Hannes Leidinger ein informatives Werk vor, das mit menschlichem Blick zum Nachdenken anregt, wie wir unsere Gesellschaft im Kontext einer globalen Migrationsgeschichte verorten
Von Monika Grosche
Migration ist aktuell eines der bestimmenden Themen europäischer Politik. Die Diskussion ist emotional aufgeladen und wird selten mit faktenbasierten Argumenten geführt. Doch Migration ist keineswegs ein neuzeitliches Phänomen, sondern ein prägender Bestandteil der Menschheitsgeschichte, wie der Buchtitel Zuhause ist anderswo. Eine Weltreise durch die Migrationsgeschichte – von Ötzi bis heute ebenso kenntnis- und faktenreich wie spannend erläutert. Auf rund 250 Seiten bieten die Wissenschaftsjournalistin Susanne Mauthner-Weber und der Historiker Hannes Leidinger eine umfangreiche Sammlung von Erzählungen, die die Perspektive auf das Phänomen Migration grundlegend verändern. Veröffentlicht wurde das lesenswerte Werk 2024 im Leykam Buchverlag.
Beginnend in der Bronzezeit führen sie uns in zahlreichen Beispielen vor Augen, dass Migration keine Einbahnstraße war oder ist. So hatte Ötzi, der als ‚Ur-Österreicher‘ gefeiert wurde, nach jüngsten wissenschaftlichen Untersuchungen rund 91,4 Prozent anatolisches Erbgut und stammte keineswegs aus der alpinen Region. Weiterhin führen sie aus, dass bereits in der Bronzezeit Migration in großem Stil von Gebieten im heutigen Böhmen und Mitteldeutschland ins heutige Österreich stattfand, welche das Fachwissen um die Herstellung von Bronze in Gegenden wie das bäuerliche Lechtal brachte. Dies geschah interessanterweise vor allem über den Zuzug junger Frauen, die dort zum Heiraten hinzogen, aber offensichtlich – allen bisherigen wissenschaftlichen Überzeugungen zum Trotz – selbst die Trägerinnen des Fachwissens waren, das in der neuen Heimat für einen großen Schritt in der regionalen Entwicklung sorgte. Bis vor wenigen Jahren war man davon ausgegangen, dass nur Männer über die Kenntnisse zur Herstellung von bronzenen Kunstwerken wie der Himmelsscheibe von Nebra verfügten und Frauen allein dem häuslichen und familiären Bereich tätig waren.
Einige der sorgfältig recherchierten Beiträge, die sich vor allem um die Migration aus und nach Österreich drehen, bieten ähnlich Unterwartetes und Überraschendes für die Lesenden, so etwa die Tatsache, dass viele Österreicher, im 19. Jahrhundert nach Ägypten auswanderten, um dort Handel zu treiben oder den dortigen Exil-Österreichern mit Caféhäusern, Dienstboten und ähnlichen Serviceleistungen Heimatgefühle zu vermitteln.
Jede dieser Geschichten, in der eine historische oder eine fiktive Person im Mittelpunkt steht, ist zwar gespickt mit Fakten, verliert aber nie ihren empathischen und neugierigen Blick auf die Menschen und ihre Beweggründe, anderswo als an ihrem Herkunftsort ihr Leben fortzusetzen. Auf diese Weise werden die individuellen Schicksale, Motivationen und Herausforderungen derer, die ihre Heimat verließen, beim Lesen lebendig, egal ob es sich um Burgenländer handelt, die aus wirtschaftlichen Gründen in die USA gingen oder um die Kinder, die aus armen Regionen wie Tirol und Vorarlberg in reiche Schwabenland an Bauern „vermietet“ wurden, um dort als Mägde und Knechte schon im zarten Alter ab 7 Jahren bäuerliche Schwerarbeit zu leisten.
Nachvollziehbar und anschaulich wird anhand der einzelnen Beispiele erläutert, dass es nicht einen Grund für Migration gibt, sondern viele, wie etwa religiöse und politische Verfolgung, wirtschaftliche Notwendigkeit oder auch einfach die Suche nach neuen Chancen und Abenteuern.
Die beiden Autor:innen sehen Migration keineswegs als „Einbahnstaße“ oder als Resultat globaler Krisen an. Stattdessen ist sie für sie der rote Faden der menschlichen Geschichte, denn Mobilität und der Austausch von Kulturen prägten und formten die menschlichen Gesellschaften seit jeher.
Immer wieder schlagen die Autor:innen auch Brücken zu den aktuellen Diskussionen um Migration. So erläutern sie beispielsweise, dass in Peru die „Integrationsunwilligkeit“ der Österreicher keinerlei Problem war. Vielmehr sorgte deren Festhalten an alten Traditionen wie Tracht und Blasmusik dafür, dass die „Österreich-Dörfer“ in Lateinamerika zur touristische Einnahmequelle avancierten.
Endgültig im Hier und Jetzt angekommen ist man im letzten Kapitel mit dem Titel „Die Schande von Parndor“: Beim Lesen entwickelt man eine große Nähe zu den Protagonisten, die 2015 aus dem Irak und Syrien vor dem IS fliehen mussten. Statt ein neues Leben in Europa zu beginnen, erstickten sie in einem Kühllaster auf der ungarischen Autobahn. Diesen 71 Menschen, die einen so schrecklichen Tod starben, geben die Autor:innen ein Gesicht und zeigen, dass hinter den angeblichen „Flüchtlingswellen“ schreckliche Einzelschicksale stehen, die einen fassungslos zurücklassen.
Zuhause ist anderswo bietet in einer Zeit, in der Migration extrem polarisierend diskutiert und fast ausschließlich als Problem dargestellt wird, eine dringend benötigte historische Kontextualisierung des Phänomens. Der Buchtitel räumt gründlich mit der verbreiteten Vorstellung auf, dass „wir“ hier waren, während „die Anderen“ später gekommen sind. Stattdessen zeigen sie auf, dass „wir“ immer auch „die Anderen“ waren oder werden konnten.
Der Buchtitel ist allen zu empfehlen, die das aktuelle Migrationsgeschehen besser verstehen wollen. Und es wäre zu wünschen, dass er zur Pflichtlektüre in Schulen, aber auch für politische Entscheidungsträger würde. Mit seiner historischen Langzeitperspektive ist es ein wichtiger Beitrag zu aktuellen Debatten, der dabei hilft, Vorurteile abzubauen und ein differenzierteres Verständnis für die Komplexität menschlicher Mobilität zu entwickeln.
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