Ein Klassiker der Benjamin-Forschung

Susan Buck-Morss' Studie "Dialektik des Sehens"

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die englische Originalfassung von Susan Buck-Morss' "Dialektik des Sehens, Walter Benjamin und das Passagen-Werk" erschien bereits 1989 und ist einer der zentralen Texte der englischsprachigen Benjamin-Rezeption. Es ist nur bedauerlich, dass es elf Jahre dauert, bis eine Übersetzung den deutschen Markt erreicht. Angesichts der Flut von Büchern und Artikeln, die in dieser Zeit zu Benjamin erschienen sind, wäre darüber hinaus ein Vor- oder Nachwort von Vorteil gewesen, das einen kurzen Überblick über die Forschungsentwicklung der letzten Jahren hätte geben und die "Dialektik des Sehens" an der einen oder anderen Stelle hätte aktualisieren können.

Dennoch: Wie es sich für einen echten Klassiker gehört, bleibt die Studie in wesentlichen Punkten unüberboten; es ist nicht nur ein lesenswertes, sondern auch ein äußerst lesbares Buch. Buck-Morss' präzise und unprätentiöse Sprache wurde von Joachim Schulte kongenial ins Deutsche übersetzt. Selbst ihr schwungvoller Stil und die Begeisterung, mit der sie sich Benjamins 1982 erstmals veröffentlichtem Passagen-Werk nähert, bleiben in der deutschen Ausgabe weitgehend erhalten.

"Dialektik des Sehens" bietet eine Einführung in das Passagen-Werk, aber auch eine Rekonstruktion und Interpretation von Benjamins nachgelassenem Torso. Dieses Vorgehen rührt vermutlich daher, dass Buck-Morss das Passagen-Werk einem englischsprachigen Publikum vorstellt, für das der Ur-Text selbst bis 1999 nicht erhältlich war. Der erste Teil der "Dialektik des Sehens" bietet einen biografischen Abriss und erläutert den Kontext des Benjaminschen Denkens. Buck-Morss skizziert die Gedankenatmosphäre der Weimarer Republik und stellt Benjamins wichtigste Gesprächspartner wie Adorno, Lacis, Brecht, Scholem und Bloch kurz vor. Werkbiografisch verortet Buck-Morss den wichtigsten Einschnitt in Benjamins Denken in der Wende vom "Trauerspiel"-Buch zur "Einbahnstraße". In letzerem habe sich Benjamin aus dem hermetisch-wissenschaftlichen Denken befreit und der Moderne geöffnet. Er nehme die Montage, die politische Analyse, den Marxismus und die Populärkultur in sein Schreiben auf. Gegen jene Hagiografen, die Benjamins Denken wieder in die hermetische Abgeschlossenheit der reinen Wissenschaft zurückzwingen wollen, polemisiert Buck-Morss des öfteren, genau wie gegen jene, die ihn als Postmodernen avant la lettre zu vereinnahmen trachten.

Im zweiten Teil der "Dialektik des Sehens" rekonstruiert Buck-Morss wenn nicht das Passagen-Werk selbst, so doch dessen Intentionen. Sie zeigt auf, wie Begriffe, Inhalte und Stilelemente des "Trauerspielbuchs" und der "Einbahnstraße" wieder aufgenommen werden, wie sie sich verändern und verschränken. Einerseits mischen sich im Passagen-Werk Fundstücke der Populär- und Alltagskultur, politische Analysen, marxistische Theoreme und surrealistische Montagen, andererseits operiert Benjamin mit Begriffen wie Allegorie und Ruine, die der Gedankenwelt des Barock und des "Trauerspiel"-Buches angehören.

Im dritten Teil ihrer Studie verhandelt Buck-Morss schließlich die philosophischen Gehalte des Passagen-Werks. Sie diskutiert die interpretatorischen Ansätze von Hans Robert Jauß und Peter Bürger, setzt sich aber auch ausführlich mit Scholems Auslegung des Benjaminschen Denkens auseinander. Untersucht wird ebenfalls die Rolle, welche die jüdische Tradition in Benjamins intellektueller Entwicklung gespielt hat.

Der dritte Teil endet mit einer Analyse der politischen Dimensionen des Passagen-Werkes und leitet damit zum Nachwort über, das unter der Überschrift "Revolutionäres Erbe" steht. Hier geht es um die intellektuelle und politische Aktualität des Passagen-Werkes, von dem Buck-Morss sagt, dass es nicht nur historische Erkenntnisse über den Frühkapitalismus vermitteln kann, sondern auch revolutionäre Energien bei den Lesern und Leserinnen zu wecken vermöge. Dies ist ein Ansatz, der nicht nur dem Geist der Gegenwart zutiefst entgegensteht, sondern auch dem der neueren Benjamin-Forschung, die dessen Werk oft genug als Zitat-Steinbruch benutzt, ihn zum tragischen Intellektuellen stilisiert oder ihn in post-strukturalistischer Beliebigkeit mit allem und jedem vergleicht. Vielleicht kommt deshalb die verspätete Übersetzung der "Dialektik des Sehens" gerade zur rechten Zeit, betont Buck-Morss doch die politischen Dimensionen des Benjaminschen Denkens, die seit dessen Erhebung zum akademischen Idol gerne übersehen werden.

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Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagenwerk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
588 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3518290711

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