Wahrheiten hinter der Wahrheit
Ralf Rothmann legt im „Museum der Einsamkeit“ neun romanhafte Kurzgeschichten vor
Von Werner Jung
In der letzten Erzählung aus dem neuen Erzählband Ralf Rothmanns, die dadurch aus dem Rahmen fällt, dass Rothmann darin auf historische Überlieferungen und Dokumente – die Geschichte vom Ende der niederländischen Widerstandskämpferin und Autorin Etty Hillesum, ihrer Deportation nach Auschwitz einerseits, andererseits die Geschichte von Albert Konrad Gemmeker, dem Kommandanten des niederländischen KZ-Durchgangslagers Westerbork – zurückgreift, heißt es am Ende einmal: „Das Letzte im Innern, die Wahrheit hinter der Wahrheit, kann dir sowieso niemand nehmen […].“
Was hier existenziell gemeint ist, nämlich ein Bekenntnis zur inneren Freiheit angesichts lebensbedrohender, ja -vernichtender Maßnahmen, lässt sich durchaus auch poetologisch im Hinblick auf Rothmanns Schreiben deuten, denn im Prozess des Schreibens ebenso wie auch im literarischen Produkt, der Erzählung und des Romans im Falle Rothmanns, zeigen und entfalten sich Wahrheiten diesseits der puren Faktizität, des gelebten Alltags – Wahrheiten, die querstehen zum ‚puren Voranleben‘, wie sich eine andere grandiose Erzählerin, Brigitte Kronauer, ausgedrückt hat, sozusagen Querschläger, die alternative Möglichkeiten zur Wirklichkeit – mindestens – anzudeuten vermögen. Und in einer weiteren poetologisch und ästhetisch belangvollen Bemerkung aus Rothmanns Band Theorie des Regens heißt es bezüglich der erzählerischen Kurzform, dass „jede wahre, jede leuchtende Kurzgeschichte […] einen romanlangen Schatten [habe].“
Das gilt auch wieder für die neun Erzählungen des vorliegenden Bandes, für Geschichten, hinter denen im Subtext, in den Zwischenzeilen, ganze umfangreiche Romane auftauchen – ob es sich dabei um Erzählungen handelt, die gewiss autobiographische Konnotationen durchscheinen lassen und auf Rothmanns Romane über seine Jugend im Ruhrgebiet (etwa Stier, Wäldernacht oder Milch und Kohle) anspielen, oder aber auch um einzelne Erzählungen, die entweder skurril oder überaus anrührend auf die Leserin und den Leser wirken, nicht zu vergessen die komisch-humorvollen Geschichten. Immer aber besticht Rothmanns Vermögen, sich in die dargestellten Situationen, in Topographisches und soziohistorische Konstellationen genau hineinzuversetzen und dies gleichsam von innen heraus zu erzählen. Witz und Kalauer nicht ausgeschlossen; nein, es sind sogar ausgesprochen stilistische Mittel, um das Lokalkolorit zu verdeutlichen: „,Ah’, sagte Willi, ‚kenn ich. Fährste nach Gladbeck: Rad weg. Kommste nach Buer…‘ – ‚…klaun se dich Uhr‘, ergänzte der andere und stieg vor ihm die ausgetretenen Stufen hinauf.“
Und melancholisch darf es – wiederholt – bei Rothmann sowieso zugehen, wenn es sich z. B. um das Ende der Jugend (samt der Verlusterfahrungen) dreht, wenn – in der Geschichte „Engel auf Krücken“ – der vom Bau ausgemusterte Willi nach über dreißig Jahren zu seiner früheren Flamme Elfriede, die er einmal spontan besucht, bemerkt: „Wenn man jung ist, baut man halt Mist und denkt nicht an später, oder? Sonst wär’ man ja nicht jung. Du glaubst ein Leben lang, das Beste passiert noch, und dann drehst du dich um und siehst: Das war’s schon! Sogar die guten Momente sind immer nur Momente, stimmt’s?“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||















