Konstrukteur unserer Realitätserfahrung

Eine Begegnung mit Walter Grond am Rande der Frankfurter Buchmesse

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Roman von Walter Grond, „Old Danube House“, ist ein Motto von Ernest Hemingway vorangestellt: „Das Leben genießen, hieß, für alles einen Gegenwert erhalten und sich darüber klar sein, wenn man ihn besaß. Man konnte für sein Geld Entsprechendes bekommen. Die Welt war schon ein geeigneter Platz zum Einkaufen. Dies schien eine gute Philosophie zu sein. In fünf Jahren, dachte ich bei mir, wird sie mir genauso dumm vorkommen wie alle meine früheren Philosophien. Aber vielleicht war es doch nicht wahr. Vielleicht lernte man doch zwischendurch etwas hinzu. Mir war gleich, woraus es bestand. Ich wollte nur wissen, wie man sich das Leben in dieser Welt einrichten sollte. Schon möglich, daß, wenn man zu leben wußte, man auf den Sinn des Ganzen schließen konnte.“

Das Fundstück aus Hemingways „The Sun Also Rises“ enthält in nuce zahlreiche Überzeugungen auch des 1957 geborenen österreichischen Autors Walter Grond, der sich seit geraumer Zeit mit Fragen der kulturellen Orientierung in einer „technoiden Welt“ beschäftigt. Die virtuellen Welten des Internets, so Gronds Auffassung, sind für viele Zeitgenossen ein Projektionsraum für unerfüllte Wünsche. Die Menschen setzen Hoffnungen in die „Maschinenhaftigkeit“ der Welt, denn die Maschine gilt vielen noch immer als Möglichkeitsraum, als Taktgeber des Fortschritts und als Instrument, das die lästigen Begleiterscheinungen des Lebens spielend erledigen kann. Zugleich hat der bislang realisierte Maschinenpark der technischen Zivilisation (um die Rüstungstechnik auszunehmen) zu großer Ernüchterung geführt, zu Fehleinschätzungen ihrer Möglichkeiten und zu neuen Abhängigkeiten. Auch die Erkenntnis, dass der menschliche Faktor den Umbruch zu einer technoiden Welt erschwert und behindert, hat den Optimismus der Technikgläubigen gebremst.

In seinem Roman „Old Danube House“ (zu deutsch „Altes Donau-Haus“) stellt Walter Grond eine Linux-Gemeinde dar, die einen spezifischen Technik-Glauben ausbildet, der bereits quasi-religiöse und wahnhafte Züge angenommen hat. Hier ist also der spannende Versuch unternommen zu zeigen, dass Technik nicht unbedingt und automatisch zu einer säkularisierten, aufgeklärten, besser organisierten und sinnvoller gestalteten Welt führen muss, sondern dass der technische Fortschritt gerade enorme Sinndefizite von höchster „lebensweltlicher Wirkung“ offenbaren kann. Esoterik, New Age, der Zulauf der Sekten, Wahrsager, Schamanen und Wunderheiler spricht schon seit geraumer Zeit dafür, dass sich bestimmte Gefühle und Erwartungen der Menschen nicht oder nur bedingt an die Maschine delegieren lassen. Im Umbruch von einer ideologiebestimmten zu einer technoiden Welt – wie sie sich im 19. und 20. Jahrhundert vollzog – wurden Übergangsexzesse deutlich, die durch Namen wie Tschernobyl auf der einen, die Mun-Sekte auf der anderen Seite ungefähr bezeichnet werden können.

Walter Grond erzählt von einem Ereignis auf der Buchmesse, das im Grunde keines war und doch die Orientierungslosigkeit der Gegenwart illustrieren kann: Boris Jelzin, gekommen, um seine Autobiographie vorzustellen, wird von einer Traube von Journalisten und Fotografen umlagert, während sich im hinteren Teil der Räumlichkeit die Hostessen über „Big Brother“ unterhalten, völlig ungerührt von dem, was sich vorne abspielt. Dies wäre bei einem John F. Kennedy, einem Willy Brandt und wohl noch bei einem Michail Gorbatschow undenkbar gewesen. Diese Gestalten der Weltgeschichte gaben, im Unterschied zu Boris Jelzin, Helmut Kohl oder Bill Clinton – Orientierung und Perspektive vor. Der Einflussverlust der Politiker ist nicht nur ein Aspekt ihrer Person und ihres Charismas, sondern auch ein Aspekt der Technik, die uns diese Figuren zu jeder Zeit verfügbar macht. Interessant ist Gronds Beobachtung, dass diese Präsenz nichts Positives bewirkt, sondern im Gegenteil dazu führt, dass die Menschen – im Inhaltlichen wie im Formalen – die „ideologische Mitte“ verlieren, jenen Bereich also, der die Prinzipien ihrer intellektuellen und emotionalen Orientierung definiert und früher Verbindungen und Verbindlichkeiten geschaffen hat. Heute navigieren sich die – vor allem jungen – Leute mithilfe der Technik durch eine Fülle alternativer Welten, deren Werte- und Normsysteme alle die gleiche Wertigkeit, sprich Unverbindlichkeit zu haben scheint.

In diesem ideologischen Raum des „Anything Goes“ kann Literatur eine Schnittmenge für eine Vielzahl in sich fragmentarisierter Milieus sein und helfen, die lebensweltlichen Bedingungen der Medienphänomene in ihrer sozialen Relevanz wieder sichtbar zu machen. Walter Grond zeigt dies dadurch, dass in seinem Roman Kernbereiche wie die Metaphysik, die Religion, die Technik, das Internet, die Medien als Module fungieren, die via Sprache an die (fiktive) Realität gekoppelt werden. Es geht ihm, sagt Grond, um die Herstellung von Realismus, um das Justieren von Partikeln der Realität dergestalt, dass im Abbildungsmodus eine zweite Realität sichtbar wird, die den Lesern als Fokussierung und Konzentrat ihrer eigenen Realitätserfahrung erscheint. Der Autor muss in diesem Konzept naturgemäß hinter dem Beobachter, Rechercheur, Wissenschaftler, dem Konstrukteur unserer Realitätserfahrung zurückstehen.

Titelbild

Walter Grond: Old Danube House.
Haymon Verlag, Innsbruck 2000.
304 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3852183359

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