Neues, deutsches Lied

Julia Ingold und Manuel Paß kämpfen um die literaturwissenschaftliche Anerkennung des Deutschrap – Aber hat er das nötig?

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lieder sind Gedichte sind Lieder: Dass das Gedicht vom Lied herstammt, ist literaturwissenschaftliche Binsenwahrheit, auch wenn in der Hochlyrik niemand mehr singt, wenn er dichtet, vielleicht seit dem Kunstlied des 19. Jahrhunderts. Gedichte werden seitdem gedankenvoll geschrieben (seltener gereimt) und still gelesen, was sich nur als die halbe Wahrheit erweist: Denn während das quasi entcarbonisierte E-Gedicht immer weniger mit dem Lied zu tun haben will, entstehen zugleich immer neue populäre Genres, in denen kräftig gedichtet, vulgo gereimt, und heftig (sprech)gesungen wird. Allein im 20. Jahrhundert zählen dazu Arbeiterlied, Schlager, Protestsongs, Popmusik und schließlich sogar als Zweigniederlassung des Pop auch wahlweise Hip-Hop oder Rap.

Das Problem mit den populären Genres ist allerdings, dass sie nicht nur populär sind, sondern relativ enge formale Grenzen setzen, die immer aufs Neue bestätigt werden müssen. Das ist nichts für ein Ästhetik, die Offenheit, Variation und Abweichung in den Vordergrund stellt. Genreliteratur wird also grundsätzlich abgewertet und ausgegrenzt. Wogegen das eine oder andere zu sagen wäre. Es bleibt aber: Die Wiederholung des Immergleichen kann schwerlich als jeweils neue kreative Leistung Anerkennung finden.

Und trotzdem setzen populäre Genres ihren Kunstcharakter immer wieder demonstrativ in Szene, wohl nicht zuletzt um ihre gesellschaftliche Reputation zu sichern. „Schemaliteratur“ (Moritz Basler) hin oder her, wenigstens zum Teil auch erfolgreich. Mit der Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan etwa wurde eine einige Jahrzehnte alte Forderung nach Anerkennung hier der Protestsongs erfüllt. Nun soll – so die beiden Herausgeber des nun erschienenen Sammelbandes über den Deutschrap als Lyrik der Gegenwart – dem Deutschrapper OG Keemo denn auch der Büchner-Preis zuerkannt werden – was als Echo der Dylan-Forderung zwar erkennbar, aber zumindest nicht ausdrücklich benannt wird.

Nun hat der Protestsong seinen Nobelpreis, allein, die Literaturwissenschaft hat eine hinreichende Anerkennung nicht folgen lassen. Auch im Fall der Protestliedkultur etwa als Teil der Populärkultur führt ihre Erforschung in der Literaturwissenschaft immer noch ein Schattendasein. Das geht anderen Themen auch so, aber das nur nebenbei.

Die rhetorischen und argumentativen Anstrengungen, mit denen freilich die mangelnde wissenschaftliche Rezeption populärer Genres beklagt und die Forschungswürdigkeit des Gegenstandes betont werden, bleiben dennoch erstaunlich. Und der Verdacht liegt nahe, dass mit solchen Forderungen entweder ein immerwährendes Muster angespielt wird, das in die Vorrede von Bänden gehört, die ein vorgebliches Desiderat beklagen. Oder hier sollen Vorkehrungen getroffen werden, das Thema angemessen auch institutionell zu platzieren. Man weiß nie, wozu es nutzt.

Zu besichtigen wäre das gegebenenfalls also in dem nun erschienenen Sammelband zum Deutschrap als Lyrik der Gegenwart, in dem es ausdrücklich um „literaturwissenschaftliche Perspektiven“ auf dieses Objekt der Begierde gehen soll. Grund dafür ist, dass Rap eben nicht nur sehr populär ist, sondern auch – als Anlehnung ans Amerikanische – „the most important stuff deutschsprachiger Lyrik“ sein soll.

Ob dem so ist, lässt sich – so die Hoffnung – nach der Lektüre des Bandes vielleicht sagen, allerdings ist die Ansage, die die beiden Herausgeber in der Einleitung machen, zum einen sehr bestimmt, zugleich der Geltungsbereich sehr fokussiert, weil hier nicht das Gesamtensemble Rap in den Blick genommen wird, zu dem neben Text eben auch Stimme, Phrasierung, Melodie und Arrangement gehören, um einige Aspekte des musikalischen Phänomens zu benennen, sondern nur der Text und dessen Ausdifferenzierung wie Variation. Das um wesentliche Aspekte reduzierte Genre wird dann als „ästhetische[s] Artefakt[] mit künstlerischem Anspruch“ geführt.

Hinzu kommt, dass im selben Zug das literaturwissenschaftliche Instrumentarium und die spezifische Kompetenz von Literaturwissenschaftlern wieder halbwegs suspendiert werden, stehe es doch eher den Fangemeinden zu, die verschlüsselten Botschaften des Genres aufzudecken (resp. aufdecken zu müssen), da sie eher Zugang zum verdeckten Weltwissen des Genres hätten als die wahlweise gediegene oder bürgerliche Literaturwissenschaft. Fragt man sich zwar, wie das mit der Altgermanistik so klappt, beispielsweise, aber das ist sicher ein eher unzulässig bissiges Argument.

Die offene Abneigung gegen die Literaturwissenschaft korrespondiert damit, dass dem Feuilleton (quasi als Abzweigung der Literaturwissenschaft) die Kompetenz abgesprochen wird, überhaupt über Rap zu berichten, spätestens indem der Jargon, der dabei verwendet werde, als bildungsbürgerlich abgetan wird und seine Etikettierungen als „paternalistisch“ und „unbeholfen“ qualifiziert werden.

Im Ganzen also ist die Literaturwissenschaft (und auch das Feuilleton) die falsche Adresse, wenn es um Rap geht. Der derzeit „most important stuff“ der deutschen Lyrik soll zwar dringend literaturwissenschaftlicher Gegenstand sein, das dann aber eben doch besser nur von Fans exekutiert werden. Was dann wohl heißen soll, dass der Kreis derer, die sich feuilletonistisch oder literaturwissenschaftlich äußern sollen oder gar dürften, recht eindeutig eingrenzen lässt. Ein Claiming von Seiten der Bandmacher zu vermuten, liegt da nicht allzu fern.

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Das heute praktizierte Genre Rap, das sich als Teilbereich des Hip-Hop etabliert hat, wurde im Laufe der 1970er Jahre aus verschiedenen Quellen insbesondere im New Yorker Stadtteil Bronx entwickelt, der vor allem von farbigen Gruppen bewohnt wurde. Inhaltliche und lebensweltliche Charakteristika des Rap, der sich aus den gesprochenen Beiträgen des Master of Ceremony (MC) entwickelte, sind die Bindung an einen einfachen, tanzbaren musikalischen Rhythmus, der die verwendeten Reim-, Vers- und Strophenformen bestimmt, der Bezug zu hedonistischen Lebensformen verbunden mit dem Protest diskriminierter Gruppen in Kombination mit der Selbstpositionierung im Rahmen der Adoleszenz. Rap wird als spontanes, authentisches Genre ausgezeichnet, dessen Sprecher einer jeweils bestimmten Community angehört, was durch den textlichen Verweis auf die Herkunft (hier den Stadtteil) gesichert wird. International bekannt werden Hip-Hop und Rap mit The Message von Grandmaster Flash & the Furious Five aus dem Jahr 1982. Dem zeitlich nachgeordnet ist die Entwicklung des Gangsta Rap, der an der amerikanischen Westküste seit Mitte der 1980er Jahre entstand, der phasenweise das Genre insgesamt überformte und im deutschsprachigen Rap immer noch im Vordergrund steht. Mit dem Gangsta-Rap kommen ein spezifischer Habitus (Gangsta), ein dominantes, offen gesagt chauvinstisches Männlichkeitskonzept, die Abwertung von Frauen zu Sexualobjekten, die demonstrative Präsentation von Reichtum und die Abgrenzung gegen die bürgerliche Gesellschaft als Diskriminierungsinstitut hinzu. In diesem Zuge erhalten die Rap-Battles ihre besondere Bedeutung, wie auch die Behauptung der jeweiligen Überlegenheit des Rappers und seine Bindung an sein auch hier demonstratives soziales Brennpunktviertel verstärkt werden. Die deutschsprachige Rezeption und Übernahme des Rap erfolgte in den 1990er Jahren, zu Beginn mit starken Vorbehalten, die den Erfolg der deutschsprachigen Variante des Rap aber kaum behindert haben.

Das Erstaunliche und vielleicht auch Befremdliche am Rap ist, dass trotz der deutlichen Ausdifferenzierung des Genres es bis heute an Charakteristika wie demonstrative Authentizität inklusive Bezug auf ein bestimmtes Stadtviertel oder eine bestimmte Stadt, betonte Überlegenheit des jeweiligen Performers als Rapper wie eines demonstrativen Männlichkeitstopos festhält. Dieses Ensemble von habituellen Elementen auch noch nach einer mittlerweile wahlweise zwanzig (Deutschrap) oder vierzig (US-Rap) Jahre dauernden Praxis als „widerständige Geste der Konfrontation mit dem Publikum“ (Widder) zu beschreiben, vernachlässigt jedoch die fraglose Abnutzung solcher Gesten.

Dass auf der anderen Seite das Genre samt konzeptioneller Basisausstattung immer noch derart präsent ist, weist möglicherweise darauf hin, dass das Genre auf der Produzenten- wie Rezipientenseite von Generation zu Generation weitergereicht und jeweils angepasst wird (so auch im Beitrag von Rosa Reitsomer zu den Männlichkeitskonzepten im Rap), was eben auch heißt, dass es funktional geblieben ist. Wie das passiert und wieso gerade dieses Konzept derart resilient ist, wäre zu klären-

Fragen gibt es also genug, unabhängig davon, ob dem Rap ein hoher literarischer Rang, große Kreativität oder gar Originalität zugeschrieben wird.

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Im Sammelband finden sich 15 Beiträge, mit denen die literaturwissenschaftliche Erforschung des Rap wenn nicht begründet, so doch wenigstens vorgeführt werden soll. Die beiden Herausgeber – Julia Ingold und Manuel Paß – beginnen mit einführenden Thesen, mit denen für die Einstufung von Raptexten als Gegenwartslyrik geworben werden soll. Befremdlich bleibt, dass die Literaturfähigkeit des Rap und seine genuine Qualität als Lyrik begründet werden muss, obwohl der Lyrikcharakter des Rap von vorneherein fraglos gegeben ist, eben nicht nur weil es sich hier um Text handelt, sondern auch weil Raptexte in einer Variante der Liedform gefasst sind und zudem Techniken wie Strophe, Vers und Reim verwenden.

Dieses Befremden bleibt eigentlich auch für die Überlegungen Fabian Wolbrings bestehen, der sich den ästhetischen Kriterien für die Bewertung der Gattung widmet. Allerdings heftet sich dieses Befremden vor allem an die Conclusio des Beitrags, in der er auf ein vorgebliches Bemühen der Literaturwissenschaft um die Anerkennung des Rap als künstlerisches Phänomen abhebt. Als ob es genuine Aufgabe der Literaturwissenschaft wäre, ein literarisches Phänomen ästhetisch zu bewerten oder gar zu „nobilitieren“. Hätte dies als Kernaufgabe der Literaturwissenschaft Bestand, würden sämtliche Gegenstände, bei denen sich eine Aufwertung verbietet, von allein aus dem Fachgegenstand ausscheiden, neben den populären Genres sicher auch ästhetisch nachrangige oder politisch diskreditierte Literaturen. Der spöttische Nachsatz Wolbrings, dass Rap die „Lobbyarbeit“ der Literaturwissenschaft weniger nötig habe als die Literaturwissenschaft den Rap – zur eigenen Aufwertung, wie zu vermuten ist –, ist mithin ein wenig deplatziert.

Nach solchen Grundsatzbeiträgen folgt eine Reihe von Studien, die Detailthemen oder einzelne Protagonisten des Rap-Genre aufnehmen: Beatrice Adelheid May etwa diskutiert die Folgen für die Authentizitätsanforderung im Rap, die die kollektive Entstehung von Raptexten oder die Übernahme von Dritttextern habe (was angesichts der musikalischen „Zitierpraktiken“ des Hip-hop eine schon fast belustigende Anforderung ist). Solche Übernahmen werden anscheinend im Genre nicht gern gesehen und stoßen auf Akzeptanzprobleme. Dem begegnet die hier als Beleg herangezogene Rapperin Shirin Davis, indem sie den kollektiven Produktionsprozess ihrer Texte demonstrativ als legitimes und angemessenes, Authentizität verstärkendes Verfahren praktiziert resp. das Authentizitätssiegel auf die Performance verschiebt.

Mit einem daran anschlussfähigen Thema beschäftigen sich Anton Fery und Tobias Krüger im Beitrag über die Autorschaft von Rappern. In diesem Kontext stehen die schriftliche Vorbereitung des Textes und seine Performance in einem spezifischen Spannungsverhältnis. Die Behauptung, die Texte nicht schriftlich, sondern kognitiv, „im Kopf“, vorab zu entwickeln, bedient dabei zum einen die Anforderung auf einen bewusst gesteuerten und präzise vorbereiteten Text einerseits und der situativen und spontanen Entwicklung in der Performance selbst andererseits, die die Authentizitätsforderung konventionell bedient. Dabei erweist sich die konventionelle Anforderung immer noch als stark genug, schriftliche Vorbereitungen grundlegend zu diskreditieren. Allerdings mögen die Formvorgaben des Rap, Reimschema, Strophen und Verslänge die Memorierbarkeit zu begünstigen (was wiederum auf die Diskussion um die Ableitung lyrische Formen aus den vorschriftlichen Kulturen verweist). Solche engeren Genrekonventionen diskutiert Manuel Paß in seinem Beitrag zum Rap als „Schemaliteratur“. Er hebt dabei auf das doppelte Moment ab, dass Rap-Texte zum einen das Genre-Schema erfüllen, sie aber zum anderen spielerisch variieren und ausweiten. Dass dies von Paß mit der nicht hintergehbaren Hochkultur enggeführt wird, verweist auf deren starken Bedeutung für die hier vertretenen Beiträge. Dass Rap-Performer sich als unterprivilegiert und randständig positionieren und dabei gegen die bürgerliche Mehrheitskultur polemisieren, ist allerdings in erster Linie als Genrekonvention zu sehen, mit dem bereits amerikanische Hip-Hopper gespielt haben. Das lässt sich auch in dem Beitrag Nils Lehnerts finden, der Praktiken wie Textübernahmen und -bezüge in Rap-Texten für Kinder und Jugendliche nachgeht. Rebecka Dürr erweitert die textliche Anamnese des Raps um die Performance, mithin die sprachliche Realisierung im Sprechakt selbst. Sebastian Berlich widmet sich seinerseits mit der feuilletonistischen Rezeption des Rap, konzediert dabei, dass das Feuilleton zwar die Komplexität und Dynamik des Rap nur bedingt wahr- und aufnehmen könne, sich aber aus der vormaligen distanzierten Abwertung weitgehend gelöst habe („die Zeit der ridikülisierenden Sprache ist weitgehend vorbei“).

Roman Widder stellt eine kurze Geschichte schwarzer Performer im Deutschrap vor, wobei allerdings der Rekurs auf Identität als bestimmende Kategorie zumindest diskutiert werden kann. Auch sind die auf diese Weise angespielten Begrifflichkeiten wie „Blut“ oder „Rasse“ zumindest fraglich, wenngleich der antirassistische Impetus geteilt werden kann. Dass dies in Haltungen Ausdruck findet, die für chauvinistische maskuline Konzepte anschlussfähig sind, lässt sich aus dem Genre ableiten, bleibt aber seinerseits schwierig. Dass das Muster beliebig übertragbar ist, lässt sich nicht nur am Beispiel von Rappern zeigen, die ihre migrantische Herkunft und randständige soziale Position in der Gesellschaft in den Vordergrund stellen, sondern auch bei den jüdischen Gangsta-Rappern, die Joscha Jelitzki vorstellt. Die vorgebliche subversive Haltung der Texte findet auch in dem Beitrag Mira Riggerts ihren Widerhall, die sich dem queeren Deutschrap von Ebow und Sookee widmet. Ob das Spiel mit Metaphern wie „Blut“ und „Flut“ den kreativen Charakter der Texte belegt, mag angesichts der langen Tradition der Begrifflichkeiten und ihrer Kontexte auf Skepsis stoßen. Die mehrfache Frontstellung gegen männliche, weiße, bürgerliche und deutsche Akteure in queeren Texten lässt sich als Grundhaltung auch in anderen Sprechtexten finden. Das lässt freilich eben auch die Frage zu, inwieweit der betonte kreative Umgang und die Konfrontation mit der „heteronormativen Zwangsordnung der Gesellschaft“ nicht selbst wieder vorgeprägte Muster reproduziert, mit der Haltungen gesichert werden sollen. Es handelt sich gegebenenfalls doch im wesentlichen um „szene-spezifische[.] Subversionen“, wie der Beitrag von Mona Gaiser zu Ebow möglicherweise ungewollt offen formuliert, was eben auch heißt, dass sie außerhalb der Szene weder wirksam sein sollen noch können. Der Beitrag von Rosa Reitsomer zur Abgrenzung spezifischer Männlichkeitskonzepte im Deutschrap lässt sich bedingt hier einreihen, da sie Männlichkeit historisch konventionell begründet, dann aber über das Profil als „Macher“ als modernes Unternehmersubjekt auszeichnet und schließlich zum „Gangsta-Emo-Rap“ weiterführt (was widersprüchlich erscheint). Die abschließenden Beiträge von Hendrick Heimböckel und Anna Maria Spener widmen sich den Modulationen und parodistischen Ansätzen von Morlockk Dilemmas Circus Maximus und der Wienorientierung von RAF Camora.

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Kaum Zweifel können daran bestehen, dass die Beiträge die intensive Sachkenntnis der Autor/innen und die Breite der Themen zeigen. Allerdings ist eben auch die mangelnde Distanz, mithin der hohen Identifikationsgrad der Beiträger/innen zu erkennen, die sie zu demonstrativen Urteilen verführen, die einer Analyse der Verfahren und Techniken eher hinderlich sind. Zumal die Themen, die die Beiträger/innen behandeln, wohl fast allesamt auch bei anderen populärkulturelle Genres aufgebracht werden können. Auch ob man das Muster bemühen muss, es handele sich beim Rap um ein authentisches Genre unterprivilegierter Gruppen, das von der dann auch noch weißen Musikindustrie gekapert und damit seinen Ursprüngen entfremdet wurde (Kapitalismuskritik inklusive oder nicht), sei hier bezweifelt. Es ist anzunehmen, dass sie Lage ein wenig komplizierter ist.

Fragen wie die nach der besonderen Kreativität oder subversiven Qualität des Deutschrap, nach seinem besonderen ästhetischen Reiz oder Wert, mithin der Bewertung und Qualifizierung verdecken die anamnetischen und analytischen Teile der Beiträge weitgehend, was zu bedauern ist. Bleibt die Überlegung, ob solche Bewertungen aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht eigentlich weitgehend irrelevant sind (aber was das angeht, gibt es wohl in der Literaturwissenschaft mindestens zwei Meinungen).

Dennoch: Ein bisschen mehr (selbstbewusste) Zurückhaltung der Beiträger/innen, was ihre Bewertungen angeht, hätte dem Untersuchungsgegenstand wie den Beiträgen gutgetan.

Anders gewendet: Rap ist wie andere populäre Formen literarischer (soll heißen fiktionalen) Produktion eben nicht nur Thema der Praktiker und Fans, sondern auch ein selbstverständlicher literatur- und kulturwissenschaftlicher Gegenstand. Literaturwissenschaftler mögen sich dem Rap widmen oder nicht – dem Rap ist das wohl egal. Aber so viel Gleichgültigkeit kann und muss Literaturwissenschaft aushalten. Sie muss ebenso wenig um Aufmerksamkeit kämpfen wie der Rap um Anerkennung. Beide machen genau das, was sie machen, nicht, um dem jeweils anderen zu gefallen. Und ob Rap dabei besonders gute Literatur ist, ist eigentlich unbedeutend. Er bleibt ein literaturwissenschaftlich relevantes Phänomen.

PS: Die Diskografien der Beiträge nachzuhören ist im übrigen hilfreich.

Titelbild

Julia Ingold / Manuel Paß: Deutschrap als Lyrik der Gegenwart. Literaturwissenschaftliche Perspektiven.
Transcript Verlag, Bielefeld 2025.
264 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783837677881

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