Aus dem Resonanzraum des Krieges
Serhij Zhadans Erzählband „Keiner wird um etwas bitten“ versammelt Momentaufnahmen des Kriegsalltags in der Ukraine
Von Thorsten Schulte
Dichtung sei auch im Krieg weiter notwendig. Das betonte der ukrainische Schriftsteller, Musiker und Soldat Serhij Zhadan in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2022. Er vergegenwärtigte, dass „Massengräber und zerbombte Wohnviertel von nun an den Resonanzraum“ für die in der Ukraine verfassten Gedichte bilden. Sein Erzählband „Keiner wird um etwas bitten“ versammelt Momentaufnahmen jenes Resonanzraums: Ein Paar im Hotel, welches erschöpft einfach nur schlafen will; ein Invalide, der einen neuen Job braucht und zum Bewerbungsgespräch muss; ein Mann, der mit seinen verbliebenen Fingern Klavier spielt. Die Geliebte eines getöteten Soldaten verfolgt dessen Beerdigung, abseits der anderen Trauergäste stehend. Einer löscht Handykontakte, weil die Personen im Krieg gefallen sind.
Es sind ausschließlich stille Momente, kurze, sachliche und nüchterne Dialoge werden geführt. Zhadan richtet den Blick auf Menschen, die „unter ihren Leuten“ sind – eine merkwürdige Formulierung, welche an mehreren Stellen des Erzählbandes ganz bewusst genutzt wird. Sie darf als Oberbegriff verstanden werden für Menschen, die mehr sind als Kameraden und etwas anderes als Freunde. „Der Tod verbindet“, heißt es in einer Erzählung. Jene „Leute“ haben gemeinsam Finsternis durchlitten und etwas davon in sich behalten. Sie haben den „schweren Schatten“ des Todes gesehen, haben Leichen geborgen. Sie sind verletzt worden, haben von Mörsergranaten zerfetzte Gliedmaßen. Sie haben stumpfe Augen. Ihre Stimmen klingen müde und unzufrieden. Eine Soldatin kommt nach Hause und wickelt sich drei Tage lang in ihre Decke ein. Was sie erlebt hat, war einfach zu viel. Zhadans Protagonisten sind unspektakuläre Helden, die einen Moment Ruhe von der Frontlinie brauchen.
Die unaufgeregten, nüchternen Erzählungen gleiten vom Realismus ins beklemmend Albtraumhafte. Es ist, als verlangsame sich die Zeit – als teile sie die Erschöpfung der im Krieg Lebenden. Serhij Zhadan erzählt von Menschen, die „noch da“ sind, „nirgendwohin“ wollen, traumatisiert, erschöpft und leer sind. „Mir kommt alles vor wie ein und derselbe Tag“, sagt einer. „Die Zeit scheint kaputt zu sein und niemand hat es eilig, sie zu reparieren“, sagt ein anderer. Die Menschen sind aus der Zeit gefallen. Sie haben keine Pläne, weil das Überleben ihnen alles abverlangt. Aus Angst wird Apathie. Es entsteht ein Fatalismus.
„Wovor verstecken sie sich?“, wunderte er sich.
„Vor dem Krieg.“
„Und wo verstecken sie sich vor dem Krieg?“
„Daheim“, lachte sie.
„Na klar, daheim gibt es keinen Krieg.“
Nicht nur das Gefühl für Zeit wird vom Krieg verändert, er ändert auch das Gefühl für Raum. In einer Wohnung ist es manchmal „gemütlich, meistens aber einfach unerträglich“. Verstecken kann man sich vor seinen Erfahrungen nicht, auch Beruhigungsmittel helfen den Protagonisten nicht. Wände rücken näher. Der Krieg schnürt die Luft ab. Und trotzdem keimt Hoffnung. Denn in den Erzählungen von Serhij Zhadan gibt es sogar Schwangere, neues Leben mittendrin. Ein Soldat heiratet. Seine Kameraden stehen „vor dem Standesamt, auf dem von Granatsplittern aufgebrochenen Asphalt, freuen sich für ihren Freund, der gerade so glücklich geheiratet hatte, und dachten über das eigene Leben nach.“ Sie realisieren, dass von ihrem eigenen Leben nichts geblieben ist: „Also musste man zusammenhalten, sonst gab es nichts, woran man sich klammern konnte.“ Zusammenhalten und auf eine Zukunft hoffen. Einen Moment der Menschlichkeit schaffen und ‘mit seinen Leuten’ zelebrieren. Und in jeder Erzählung ist diese bissige Entschlossenheit zu spüren: Wie dreckig es ihnen auch geht, was auch immer sie durchgemacht haben und sie in den nächsten Stunden erwartet: Sie lassen sich nicht unterkriegen.
In seiner Heimatstadt Charkiw beweist Serhij Zhadan, dass es im Überleben ein Leben gibt. Er tritt mit seiner Band in U-Bahn-Stationen auf, während der Luftalarm alle Menschen in Tunnel und Luftschutzräume zwingt. Er hilft bei Evakuierungen, unterstützt Bedürftige und ist dabei selbst Soldat. Mitgefühl und Menschlichkeit stehen im Mittelpunkt seines Handelns – und sind wiederkehrende Themen in seinen Büchern. Immer wieder erstrahlt Charkiw in Zhadans Texten als eine „Kloake der Glückssuchenden, die in ihrem feuchten Maul alle und alles zu verschlingen scheint“. So formulierte es Sasha Marianna Salzmann treffend in ihrer kongenialen Laudatio auf Serhij Zhadan anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Kurz nach der 2014 erfolgten russischen Annexion der Krim erschien Zhadans Roman Mesopotamien, ebenfalls über das Leben in Charkiw. Wild und bunt porträtierte der Autor die Lebens- und Liebesgier ihrer Bewohner. Charkiw war bei ihm ein modernes, fragiles Babylon zwischen Alkohol, Prostitution und Gewalt sowie zugleich ein Ort kultureller Vielfalt, mit bunter ukrainischer Punkerszene und beeindruckender Lebenskraft. In Zhadans Roman Internat wird sodann alles von heftigen Explosionen erschüttert. Der Donner verteilt sich hoch in der Luft. Die Raketen sind spät zu sehen, es ist schwer auszumachen, wo sie einschlagen. Eine angespannte Ruhe, wenn alle verstummen, um zu lauschen, wird wiederholt von Detonationen und Schreien abgelöst. In Internat ist das Kriegsgeschehen an der Frontlinie unmittelbar sichtbar.
Das neue Buch geht einen Schritt weiter. In den im Sammelband Keiner wird um etwas bitten gruppierten Erzählungen ist der Krieg selbst unsichtbar. Sichtbar sind dessen Auswirkungen – und zwar in Text- und in Bildform, denn Zhadan streute grobe, karge Skizzen von beschädigten Häusern, Strommasten und Feldern in sein Buch. Zugenagelte Fenster, menschenleere und mit Glassplittern bedeckte Straßen. Den Versehrten erscheint dies alles „gestört“ und verzerrt wie in einem Traum. Eine „besondere Unwirklichkeit“ umgibt sie, ihre Wahrnehmung ist ein Extrakt aus Schlafmangel, Traurigkeit und Furcht. Eine Geschichte trägt den Titel „An wen du dich später noch erinnerst“. Zhadan sammelt die Geschichten so vieler „seiner Leute“ wie möglich. Damit man sich an sie erinnert. Damit man sich auch in vielen Jahren noch daran nachvollziehen kann, was heute in der Ukraine geschieht und wie es sich anfühlt, über einen langen Zeitraum in ständiger Angst zu leben. Es ist das Narrativ einer sich neuverortenden ukrainischen Gesellschaft. Indem Zhadan die Geschichten aufschreibt, Texte, Gedichte und Lieder veröffentlicht, gibt er seinen Leuten ihre Würde zurück. Würde, welche Wolodymyr Selenskyj von Donald Trump im Weißen Haus am 28. Februar 2025 zu nehmen versucht wurde, weil der amerikanische Präsident Täter und Opfer des Angriffskriegs nicht klar benannte und die Schuld Russlands relativierte. Trump hat Selenskyj angetan, wovor Serhij Zhadan rund zweieinhalb Jahre zuvor in seiner Friedenspreis-Dankesrede warnte: Es wurden Opfer beschuldigt und verlangt, „um fragwürdiger materieller Vorteile willen […], das totale, enthemmte Böse zu schlucken“. Doch „ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden“, betonte Zhadan. Seine Erzählungen unterstreichen dies mit Nachdruck.
Es ist so wichtig, dass die Geschichten festgehalten und Zhadans Erzählungen gelesen werden. Die Welt muss sehen, was in der Ukraine jeden Tag passiert. Wenn wieder eine Schule, ein Krankenhaus oder ein Gefängnis angegriffen wird, wenn Russland mit brutaler Härte zivile Ziele attackiert. In der dem Buch seinen Titel gebenden Erzählung „Keiner wird um etwas bitten“ bringen zwei Männer humanitäre Hilfe zu Kindern. Sie haben nicht um die Konserven gebeten, sie haben nicht gebettelt, das wird unterstrichen. „Es gibt wichtigeres im Leben als Konserven“, sagt hernach der eine Helfer zum anderen. „Zum Beispiel?“ „Zum Beispiel das Gefühl von Würde.“ Selbst die vor zerstörten Häusern stehenden Kinder erhalten sich ihre ukrainische Entschlossenheit und ihren Stolz. So bleibt mitten im Resonanzraum des Krieges trotz des täglichen Albtraums ganz unpathetisch die Gewissheit bestehen, dass es eben doch eine Zukunft gibt – und das hallt nach, wenn man diesen eindrucksvollen Erzählband beiseitegelegt hat.
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