Very vegan

Warum gemeinsames Essen von Fleisch- und Pflanzenfressern heute schnell zu einem Kulturkampf ausartet

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler und Stefanie von WietersheimRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie von Wietersheim

Rätsel des Lebens. Warum, um Himmels willen, ist in diesen Tagen ein gemeinsames größeres Essen in Familie oder Freundeskreis fast so kompliziert geworden wie Nahostverhandlungen, so kulturkämpferisch wie weiland Glaubenskriege zwischen Papisten und Calvinisten, so nervig wie komplexe Matheaufgaben? Ja, wir sprechen vom Clash der Esskulturen zwischen unverzagten Fleischessern, fast schon Mainstream zu nennenden Vegetarierinnen und sensiblen Veganern, und dazu allen möglichen Arten von Menschen, die unter Lebensmittelallergien leiden.

Um vorweg den Dampf aus der Diskussion zu nehmen und uns vor verbalen Farbbeutel-Attacken zu schützen: Einer von uns hatte selbst vegetarische Phasen, wir kennen Allergien aus eigener Erfahrung, wir wollen keine Tiere quälen und wir bemühen uns redlich, das Klima zu schonen. Wir verstehen den Ansatz des veganen Lebens gut und verneigen uns vor ihm in Ehrfurcht: Achtung vor Kreaturen, kein Ausnutzen ihrer Eier, Milch, ihres Fleisches und ihrer Knochen. Natürlich wissen wir, dass Massentierhaltung dem Klima schadet und die Menschen global gesehen viel zu viel Fleisch konsumieren.

Aber was uns zunehmend im menschlichen Miteinander am Tisch nervt, ist die Radikalität und das Anspruchsdenken, die Missionierung und das Miesmachen durch manche Veganer und Veganerinnen, die ihre Lebensweise für die göttliche Eingebung halten und sich entsprechend aufführen. So gibt es zwischen Hamburg, Berlin und München vegan lebende Menschen, die sich weigern, mit Nicht-Veganern an einem Tisch zu sitzen. Menschen, in deren Häuser man keine nicht-vegane Schokolade einführen darf. Hinweis: „Das sind unsere Hausregeln.“

Klar, wir verstehen, wie schön es ist, einer guten Idee konsequent zu folgen. Also: „In meinem Haus werden keine tierischen Produkte gegessen. Keine Kleider mit Leder oder Federn getragen.“ Schwierig wird es erst, wenn ein quasi-religiöser Fanatismus dazu führt, dass man nicht einmal mehr an einem Tisch sitzen kann, ohne dass die Dinge, die man in den Mund führt und runterschluckt, kommentiert und zum alles bestimmenden Thema werden. Und dadurch die Stimmung erheblich runterzieht.

Die misstrauische Frage: „Ist das vegan?“, wenn wir jungen oder nicht mehr jungen Menschen ein Aperitif-Brötlein mit Artischockencreme anbieten – und wir uns panisch heimlich fragen, ob die südfranzösische Manufaktur vielleicht, ja was? Eiweiß? hineingemischt haben könnte –, kann man von zwei Seiten sehen. Manche Veganerinnen und Veganer empfinden diese Frage als neutral und normal. Es geht eben um ein Abchecken, ob sie hier in unserem Haus, in das wir eingeladen haben, ihrer selbstgewählten Lebensweise folgen können. Lasst uns über beide Seiten schreiben.

Point of View Eins: Die Gastgeber

Nicht-Veganer, Flexitarier, Whatever-Tarier, die nur eine vegetarische und keine vegane Variante vorbereitet haben, können sich bei dieser Frage „Ist das vegan?“ durchaus vor den Kopf gestoßen fühlen. Haben sie doch liebevoll ein Essen für viele Leute vorbereitet. Ganz vegetarisch: ohne Fleisch. Aber: Sie haben weder vegane Sahne in die Schokoladencreme gegeben noch veganes Schmalz auf das Gratin gestreut. Sie haben auch nicht drei Quiches gebacken, sondern eine mit Schinken und eine vegetarische Variante.

„Aber wenn Du doch weißt, dass ein Veganer kommt, musst Du natürlich veganes Essen vorbereiten, das ist sonst ein Affront“, sagt eine vegan lebende Verwandte, die nur bei den Großeltern vegetarisches Essen akzeptiert, weil sie ahnt, dass das Zubereiten unbekannter veganer Gerichte die Mitte Achtzigjährigen dann doch überfordern könnte.

Ist es ok, sich durchaus angestoßen zu fühlen, wenn misstrauische Gäste vegetarisches Essen abchecken, weil in der Füllung etwas Schafskäse lauern könnte? Ist es unhöflich, gedankenlos, fies, vegan lebenden Menschen nicht ein komplett veganes Essen zu kochen? Sich nicht für Hefeflocken, Kuchen ohne Eier oder glutenfreie Hafermilch zu begeistern?

Es sei hier nur auf die Schwierigkeit eines gemeinsamen Familienessens hingewiesen, bei dessen Planung man am Ende am liebsten Kartoffeln mit Leinöl, grünen Salat und Salz servieren möchte und hinterher eine Banane: Zwei Menschen leben strikt vegan, zwei sind Vegetarier, einige lieben Wild, andere mögen keinen Fisch, ein anderer findet Schalentiere gruselig, fünf haben diverse Lebensmittelunverträglichkeiten.

Der Mensch, der lokales Wild verspeist, findet industriell hergestellte Ersatzprodukte mit Lupinen und Soja etwas abartig, so wie die Veganer das Töten eines Rehs als Sünde empfinden. Einer isst zum Glück alles, und das gern. Von der Großmutter hat man noch nie einen Piep gehört, was sie nicht essen mag, ist halt ein Kriegskind. Wenn man eben nicht nur Kartoffeln mit Leinöl essen mag, bleibt nur ein mehr oder minder aufwendig gekochtes Buffet, bei dem jeder und jede etwas anderes isst. Die Individualisierung der Gesellschaft zeigt sich nirgendwo so extrem wie vor dem Familienbuffet einer westlichen Akademikerfamilie. Außer vielleicht in den Wahllokalen. 

Point of View Zwei: Vegetarier und Veganer leben mit uns

Vielleicht lassen sich Glaubenskriege mit Fakten und Zahlen einhegen. Vegetarismus bezeichnet eine fleischlose Ernährung, während Veganismus den Verzicht auf jegliche tierische Erzeugnisse (also auch Milch, Eier und Honig) bedeutet. Über die Verbreitung dieses Ernährungsstils kursieren unterschiedliche Angaben, eindeutig ist jedoch ein Trend zum Wachstum beider Zielgruppen. Das Institut für Demoskopie Allensbach rechnet aufgrund seiner Datenbasis für Deutschland mit rund 8,12 Millionen Personen (ab 14 Jahren), die „weitgehend“ auf Fleisch verzichten. Bei der veganen Ernährungsform rechnet das Institut mit rund 1,52 Millionen Menschen, die „weitgehend“ auf tierische Produkte in ihrer Ernährung verzichten. Das sind bei einer geschätzten Gesamtzahl von 83 Millionen Menschen in Deutschland keine Zahlen, durch die sich irgendjemand bedroht fühlen muss.

Selbstverständlich ist veganes Leben auch Ausdruck einer Wohlstands-Elite, die so im Überfluss lebt, dass sie auf einen Großteil von Nahrungsmitteln verzichten kann und sich optimal mit Vitamin B12-Substituten die fehlenden Nährstoffe zuführen kann. Zudem kann gezeigt werden, dass es billiger ist, sich vegan zu ernähren als Fleisch zu essen. Es gibt keinen guten Grund, Fleisch zu essen. Zwar ist Fleisch eine reichhaltige Quelle für hochwertige Proteine und Mikronährstoffe, aber eine ausgewogene vegetarische oder vegane Ernährung kann den menschlichen Nährstoffbedarf ebenfalls vollständig decken. Unser Gebiss illustriert, dass wir nicht als Carnivoren, sondern als Omnivoren gedacht sind. Uns fehlen die Reißzähne, über die beispielsweise alle Abkömmlinge der Wölfe und Raubkatzen verfügen. Sie müssen scharfe Zähne im hinteren Kieferbereich haben, um das Fleisch, die Sehnen und Knorpel von Beutetieren zu durchtrennen. Das müssen wir nicht, dafür nehmen wir Messer und Gabel.

Aber wenn sich manche Fleischesser über den erzieherischen Ansatz und die missionarische Begeisterung mancher Vegetarier und Veganer aufregen, leugnen sie die entgegengesetzten Überzeugungsbemühungen aus ihren Kreisen. Schnell können sich Menschen, die sich freudvoll über ein Wiener Schnitzel beugen, angegriffen fühlen, wenn ihr Tischnachbar freundlich sagt, dass er oder sie kein Fleisch isst. Und die gegenläufigen missionarischen Aktivitäten beginnen: „Würdest Du Deinen Salat überhaupt noch essen, wenn Du weißt, dass eine Fliege drüber gelaufen ist? Wovon würdest Du denn leben, wenn Du auf einer Insel oder in einem Kerker leben müsstest, wo es keine Pflanzen gibt?“ Von jenen Menschen ganz zu schweigen, die es sich nicht verkneifen können, darauf hinzuweisen, dass Adolf Hitler überzeugter Vegetarier war. Hat nicht Alice Weidel mit hocherhobener Stimme geschrien: „Mein Schnitzel lasse ich mir nicht verbieten“?

Point of View Drei: Seid friedlich und experimentierfreudig, Leute!

Sind alle Fleischesser schlechte Menschen? Nein. Sind alle Vegetarier und Veganer bessere Menschen? Nein.

Macht einfach nicht so viel Gewese. Keine Bekehrungsversuche, in keine Richtung. Und probiert es einfach aus, Ihr Fleischesser, wie gut es in indischen und vietnamesischen Restaurants schmecken kann. Probiert einfach mal, eine Lasagne selbst zu machen, in der veganes Hack und nicht-tierischer Käse verarbeitet wurden. Nervt nicht mit Euren Vorträgen über den tollen Bio-Metzger und die großartigen regionalen Bauern, wenn Ihr zum Fleischverzehr bekehren wollt. Und hört auf mit den traurigen Geschichten über das Leid der Tiere in der Massentierhaltung und dem Elend der Spaltenböden der Schweinezucht. Fühlt Euch alle nicht gleich wechselseitig beleidigt. Und bleibt am Tisch sitzen, am gemeinsamen Tisch.

Wie wäre es mit einer Exkursion nach Leipzig? Diese deutsche Stadt steht an der Spitze mit ihrem sehr speziellen Angebot: Mit einer Dichte von 6,98 Restaurants pro 100.000 Einwohner bietet Leipzig nicht nur eine breite Palette an 19 vegetarischen Restaurants, sondern auch eine Auswahl von 24 veganen Lokalen. Und wenn Markus Söder glaubt, dass er mit seinem „fetischhaften Wurstgefresse“ (Robert Habeck) den Liebhabern von Rindsgulasch, Rehkeule und einem Coq au Vin einen Dienst erweist, irrt er.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.