Brechts „Kriegsfibel“ erschien erstmals vor siebzig Jahren
Zum Jubiläum der Erstpublikation ist das Antikriegsbuch wieder erschienen
Von Manfred Orlick
Bertolt Brecht (1898-1956) hatte 1938 im dänischen Exil begonnen, Fotos aus Zeitungen und Zeitschriften zu sammeln, beginnend mit Aufnahmen vom Spanischen Bürgerkrieg. Von besonderem Interesse waren für ihn Fotos, die den Alltag der Soldaten und der Zivilbevölkerung sowie die Zerstörung und die Opfer des Krieges dokumentierten. Dazu verfasste er vierzeilige Epigramme, die die Fotos „zum Sprechen bringen“ und den dargestellten Szenen und Motiven ihre wahre Bedeutung geben sollten. Diese „Fotoepigramme“, wie Brecht sie nannte, entlarvten meist die ursprünglichen Bildunterschriften.
Bereits 1929 hatten Kurt Tucholsky (1890-1935) und John Heartfield (1891-1968) mit Deutschland, Deutschland über alles ein provokantes Bild-Text-Buch zur Weimarer Republik herausgebracht und damit eine neue Technik der Bildunterschrift entworfen. Brecht entwickelte Gestalt und Form seiner Fotoepigramme in seinen Journalen des Exils, die mit dem 20. Juli 1938 begannen. Das Datum markierte den Beginn seiner schriftlichen Sammlung von Notizen. Ab Januar 1940 fügte er dann Pressefotos zum aktuellen Kriegsgeschehen aus britischen und schwedischen Zeitungen in die Journale ein.
Ruth Berlau (1906-1974), Brechts Mitarbeiterin und Geliebte, war besonders eifrig bei der Beschaffung von geeignetem Fotomaterial. Sie versorgte Brecht mit Zeitungsausschnitten aus der einheimischen wie internationalen Presse. So bat sie ihren Freund, den dänischen Journalisten Knud Rasmussen, um Aufnahmen aus der Illustrierten Billed Bladet: „Kriegsbilder brauchen wir, schneiden Sie, schneiden Sie, schneiden Sie aus!“ In ihrem amerikanischen Exil führten Brecht und Berlau die Sammlung ebenfalls fort.
Am Anfang wurden die Zeitungsausschnitte ohne besondere Ordnung in Mappen abgelegt. Zwischen 1940 und 1944 entstanden dann aus diesem Material zahlreiche Fotoepigramme, die eine grobe Chronologie des Zweiten Weltkrieges ergaben. Ein Fotoepigramm aus dem Jahr 1940, genauer vom 4. August, gehört zu den frühesten seiner Art. Es zeigt einen deutschen Bomberjet über dem Ärmelkanal, dessen Nase mit einem Hai-Gesicht übermalt wurde, versehen mit Brechts neuer Bildunterschrift: „Fliegende Haie nannten wir uns prahlend …“. Die Fotoepigramme prangerten neben den Grausamkeiten und der Sinnlosigkeit des Krieges auch die Unmenschlichkeit der nationalsozialistischen Führungsriege an. Aber auch die Landsleute und Soldaten trugen eine Mitverantwortung. Brecht warf ihnen Gehorsamkeit vor: „Ihr wärt zu mehr gut als zum blinden Welterobern“.
Im Sommer 1944 umfasste die Sammlung rund 60 Epigramme, über die Brecht in seinem Journal vermerkte, sie seien ein „befriedigender literarischer Report über die Exilzeit“. Eine erste Publikation erfolgte in der österreichischen Exilzeitschrift The Austro-American Tribune (New York), die drei Fotoepigramme in der Februar-Ausgabe 1944 abdruckte.
Der Komponist Paul Dessau (1894-1979), der sich ebenfalls im amerikanischen Exil befand, vertonte zwischen 1943 und 1947 28 der Epigramme in seinem pazifistischen Chorwerk Deutsche Misere, das „die ungeheure Tragödie unseres Vaterlandes schildern sollte“ (so Dessau). Obwohl das erste große Gemeinschaftsprojekt der beiden Künstler für das Nachkriegspublikum gedacht war, wurde es erst 1966 in Leipzig uraufgeführt; sogar erst im Jahr 1989 in der Bundesrepublik.
Ruth Berlau hatte noch im amerikanischen Exil fotografische Kopien von Brechts Werken in diesen Jahren angefertigt; unter anderem von der Kriegsfibel. Diese Kopien wurden 1947 in der New York Public Library hinterlegt. Damit stand die Kriegsfibel bereit für mögliche Verleger. Nach dem Krieg (1949) beauftragte Brecht Ruth Berlau mit der Veröffentlichung der Kriegsfibel. Der Münchner Verleger Kurt Desch, der bereits einige Rechte an Brechts Werk hatte, zeigte jedoch kein Interesse an dem Foto-Text-Band. Brecht wandte sich daraufhin an den „Kulturellen Beirat für das Verlagswesen“ (Berlin/DDR), doch dieser befand, dass die Kriegsfibel mit ihrer allgemein pazifistischen Tendenz Brechts angeblicher Absicht, „einen Beitrag gegen die imperialistischen Kriegstreiber zu leisten“, nicht gerecht werde.
Schließlich war es der Brecht-Schüler und spätere Schriftsteller Günter Kunert (1929-2019), der als Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel Brecht ermutigte, die Mappe dem Eulenspiegel Verlag vorzulegen. Im September 1954 kam es zum Vertragsabschluss. Kunert schrieb historische Kommentare zu den Fotos, während Berlau ein Nachwort verfasste, das später auf den Klappentext gelangte. Die kritischen Stimmen, insbesondere vom „Amt für Literatur“, verstummten jedoch nicht. Kleine Änderungen akzeptierte Brecht, vertrat jedoch die unverblümte Ansicht, dass „die Meinung des Autors nicht unbedingt mit der der Regierung übereinstimmen muss“. Im Dezember 1954 wurde ihm jedoch der sowjetische Stalin-Preis verliehen, und daraufhin lag die Druckerlaubnis plötzlich vor. Die Buchausgabe wurde von dem Werbegraphiker und späteren Theaterregisseur Peter Palitzsch (1918-2004) gestaltet.
Nach dieser Publikationsodyssee, selbst eine Art „Krieg“, für den keine Fibel geschrieben wurde, erschien die Kriegsfibel mit 69 Fotoepigrammen 1955, zehn Jahre nach Kriegsende. Zu spät? In ihrem kurzen Vorwort gab Berlau als Herausgeberin darauf eine Antwort: „Warum … ausgerechnet jetzt diese düsteren Bilder der Vergangenheit vorhalten? Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen.“
Obwohl der Kriegsfibel kein großer Verkaufserfolg beschieden war, ließ der Eulenspiegel Verlag in den Jahren 1968, 1977 und 1983 drei Nachauflagen folgen. In der Bundesrepublik erschien das Antikriegs-Werk erstmals 1968 im Frankfurter Verlag Zweitausendeins (Nachauflage 1978). 1994 erfuhr die Kriegsfibel dann im Eulenspiegel Verlag eine erweiterte Neuausgabe, die um zahlreiche unveröffentlichte Tafeln und Texte ergänzt wurde.
Die diesjährige Jubiläumsausgabe stellt eine Reproduktion der Erstausgabe von 1955 dar. Der Anhang enthält alle Fotoepigramme, die entweder eliminiert oder später verändert worden waren; dazu einige Epigramme von Brecht, zu denen es keine Fotos gibt. Der Literaturwissenschaftler Jan Knopf, Leiter der Arbeitsstelle Bertolt Brecht (ABB) am Karlsruher Institut für Technologie, gibt außerdem einen kurzen Überblick zur Entstehung der Kriegsfibel, die ein Gemeinschaftswerk von Bertolt Brecht und Ruth Berlau war und an Aktualität bis heute kaum etwas eingebüßt hat.
|
||















