Perspektivwechsel
Pankaj Mishra hat in „Die Welt nach Gaza“ seine postkoloniale Sicht auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern aufgeschrieben
Von Horst Konietzny
Eigentlich müsste es „Die Welt vor Gaza“ heißen – dieses aktuelle Werk des renommierten indischen Schriftstellers und Essayisten Pankaj Mishra, das sich vor allem mit den Ursachen und den weitreichenden historischen, moralischen und postkolonialen Implikationen des Gaza-Konfliktes beschäftigt. Er berührt dabei – zumindest aus westlicher Perspektive – zahlreiche Tabus im Umgang mit Israel und der Shoah. Und er tut das so empfindlich, dass manche Kritik in der Schnappatmung steckenbleibt. Aber eben nicht alle: Man unterstellt „bösartige Propaganda“, eine „überaus polemische, einseitige Abrechnung mit dem Westen“ oder fühlt sich vergiftet nach der Lektüre eines „in dröhnend-apokalyptischer Sprache daherdonnernden Traktats“, das „dem antisemitischen postkolonialen Aktivistentum die Absolution erteilt“.
Gut an solchem Phrasendonner ist, dass er neugierig auf die Lektüre macht. Und noch besser ist, dass man rasch feststellt, dass hier ein sehr persönlicher, leidenschaftlicher, empathischer Blick auf eine komplexe, komplizierte und vor allem menschlich furchtbar traurige Situation geworfen wird. Mishra verortet seine Haltung in seiner indischen Herkunft und eigenen Erfahrungen: Aufgewachsen mit einem Poster von Moshe Dayan, wird er 2008 bei seinem Besuch in Israel-Palästina mit der dortigen Realität und den rassistischen Strukturen konfrontiert. Die Erfahrung weckt in ihm ein Identifikationsgefühl mit den Palästinensern als Teil des Globalen Südens und bringt ihn zu einem seiner zentralen Themen, das er auch in zahlreichen seiner Werke durchdekliniert: Der kritischen Auseinandersetzung mit dem Überlegenheitsanspruch des Westens und seinen spezifischen Narrationen.
Zentral ist ihm hier die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, den er als traumatische Grunderfahrung „mehrerer jüdischer Generationen“ sieht:
Jüdische Israelis erlebten 1948 die Geburt ihres Nationalstaats als eine Frage von Leben und Tod, und das Gleiche geschah noch mal 1967 und 1973 inmitten einer Vernichtungsrhetorik seitens ihrer arabischen Feinde. Vielen Jüdinnen und Juden, die mit dem Wissen aufgewachsen sind, dass die jüdische Bevölkerung Europas nahezu vollständig ausgelöscht wurde, und zwar nur deshalb, weil sie Juden waren, kann die Welt nur zerbrechlich erscheinen. Bei ihnen entfachten die am 7. Oktober 2023 von der Hamas und anderen palästinensischen Gruppen in Israel begangenen Massaker und Geiselnahmen erneut die Angst vor einem weiteren Holocaust.
Er würdigt die Bedeutung der Shoah, allerdings, und das ist in den Augen vieler Kritiker das Skandalon, kritisiert er den Begriff der Singularität des Holocausts, der oft als alleiniger moralischer Bezugspunkt gilt, während andere historische Gräueltaten (zum Beispiel Völkermorde in Afrika, den Amerikas oder Asiens) marginalisiert werden. In Mishras Argumentation wird der Holocaust heute von Israel und dem Westen nicht nur als Gedenken aufrechterhalten, sondern auch zur Legitimierung staatlicher Gewalt benutzt – vor allem gegenüber Palästinensern. So wie er auch den 7. Oktober durch die „fanatischste israelische Führung der Geschichte“ für ihre eigentlichen Zwecke ausgenutzt sieht. Ein wesentliches, stilistisches Prinzip seiner Schreibweise ist die exzessive Bezugnahme auf Autorinnen und Autoren, die sich kritisch mit dem Teil der israelischen Politik auseinandersetzen, der in der Tradition des revisionistischen Zionismus steht und mit dem rechtsgerichteten Likud Block heute das Geschick Israels bestimmt. Die Liste der Zitierten ist eindrucksvoll, sie reicht von Hanna Arendt, Günther Anders, Jean Amery über Jurek Becker – „der als einer von wenigen jüdischen Schriftstellern 1977 in einer Rede sagte: „dass es Juden sind, die sich im Nahen Osten als Herrenmenschen etablieren und Politik betreiben, für die mir kein originelleres Zitat einfällt als: räuberisch“ – hin zu Stefan Zweig, der sich entschieden gegen nationalistische Tendenzen wandte:
Ich sehe die Aufgabe des Jüdischen politisch darin den Nationalismus zu entwurzeln in allen Ländern […]: wir können nicht mehr, nachdem wir 2000 Jahre die Welt mit unserem Blut und unseren Ideen durchpflügt, uns wieder beschränken in einem arabischen Winkel ein Natiönchen zu werden.
Dieser kleine Einblick in die Positionen, auf die Mishra Bezug nimmt, zeigt, woran sich seine Kritiker stören. Es ist die radikal einseitige Sicht auf rassistische und mörderische Tendenzen innerhalb der israelischen Politik und Gesellschaft, die er in Bezug setzt zu ähnlichen Entwicklungen im Hindunationalismus Indiens oder der Apartheidpolitik Südafrikas. Als besonders bitter empfindet er die Tatsache, dass die eigenen Leiderfahrung der Juden sie nicht vor eigener Inhumanität bewahrt.
Ich war nicht so naiv, zu glauben, dass Leid die Opfer fürchterlicher Gräuel zu edlen Menschen mit einer außergewöhnlichen Moral macht. Die Dalits in Indien, wahrscheinlich die größte ständig verfolgte Gruppe in der Geschichte, hatten sich ihren Peinigern aus den obersten Kasten angeschlossen, als diese während des von Narenda Modi 2002 im Bundesstaat Gujarat beaufsichtigten Progroms muslimische Männer und Frauen töteten und vergewaltigten. Jüdinnen und Juden aus dem Nahen und Mittleren Osten, die einst unter Schmähungen durch eine aus Europa stammende herrschende israelische Klasse gelitten hatten, diktierten nun die Bedingungen für die Demütigung von Palästinensern und Palästinenserinnen. […] Dass die Opfer von gestern mit hoher Wahrscheinlichkeit die Täter von heute werden, das lehrt die organisierte Gewalt in Jugoslawien, dem Sudan, dem Kongo, in Sri Lanka, in Afghanistan und an vielen anderen Orten.
Mishra plädiert dafür, historische und aktuelle Gewalt auch aus Sicht des globalen Südens zu betrachten. Die westliche Geschichtsschreibung sei immer noch kolonial geprägt: Sie erkenne nicht an, wie eng Kolonialismus, Kapitalismus und Rassismus miteinander verbunden sind – und wie stark Palästina heute ein Symbol für all diese fortbestehenden Ungleichheiten ist.
Kenntnisreich beschreibt er die postkoloniale Verantwortung des Westens und seines nahöstlichen Vorpostens Israel für den Konfliktherd Gaza, der für ihn ein drastisches Warnsignal für einen Zerfall der Nachkriegsordnung mit seiner Zäsur des Völkerrechtes darstellt. Gaza ist – so Mishra – keine lokale Tragödie, sondern ein globales Menetekel für den Abstieg in eine Welt, in der nur noch Macht zählt.
Mishra kritisiert besonders die Doppelmoral westlicher Staaten: Während sie Menschenrechte und internationale Normen gegenüber autoritären Staaten wie Russland oder China betonen würden, schwiegen sie bei den Verbrechen gegen Palästinenser oder rechtfertigten sie aktiv. Er nennt dies einen „moralischen Zusammenbruch“ Europas und Nordamerikas, insbesondere Deutschlands, das aus seiner historischen Schuld gegenüber Juden eine bedingungslose Solidarität mit Israel ableite – selbst gegenüber dessen autoritären oder kriegerischen Handlungen.
Ein weiteres Argument betrifft die Rolle der Sprache: Mishra kritisiert, dass die westlichen Medien und Regierungen Begriffe wie „Terror“, „Verteidigung“ oder „Sicherheit“ selektiv nutzen, um bestimmte Gruppen zu delegitimieren. Palästinensisches Leid werde sprachlich entmenschlicht, israelisches Leid hingegen moralisch aufgewertet. Diese sprachliche Asymmetrie zementiere Machtverhältnisse.
Die Welt nach Gaza ist ein zutiefst persönliches, intellektuell ambitioniertes Werk. Mishras Talente als Essayist sind unübersehbar – seine Sprache, seine historischen Anknüpfungen und sein Mut, konventionelle Narrative zu hinterfragen.
Seine zentrale Errungenschaft liegt im Entwurf einer dekolonialen Perspektive, die die Shoah nicht über alle anderen historischen Traumata stellt, sondern sie als Teil eines globalen Systems begreift.
Gleichzeitig bietet er Angriffsflächen: Er gehe nicht weiter auf die Grausamkeiten des 7. Oktober 2023 ein und kommentiere sie nicht, relativiere die Singularität des Holocausts und zeige eine selektive Geschichtsdarstellung. Solche Vorwürfe sind berechtigt, schmälern aber dennoch nicht den Wert der Lektüre.
Denn Mishras Werk hilft – gerade mit seiner Unausgewogenheit – einen Perspektivwechsel anzuregen, bezieht sich ganz klar auf bestimmte Entwicklungen in der israelischen Gesellschaft und Politik und nicht auf „die Juden“ und ist ein beklemmend wertvoller Startpunkt für weitere Beschäftigung mit der Materie.
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