Kraniche als Gleichnis für eine utopische Existenz
Ursula Krechels Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“ verstört und fesselt
Von Herbert Fuchs
Die Schriftstellerin Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, ist Georg-Büchner-Preisträgerin 2025. In der Begründung der Jury heißt es:
Mit ihr zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine Autorin aus, die in ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetzt. […] Das Thema der Selbstbehauptung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung weiblicher Autorschaft zieht sich als roter Faden durch ihr gesamtes Schaffen. […] Ursula Krechels Werk regt Leserinnen und Leser an, die Spuren der Vergangenheit im Alltag der Gegenwart aufzufinden und das Hier und Jetzt der deutschen Gesellschaft nicht hinzunehmen, wie es ist.
Die Begründung enthält Begriffe, die auch für Krechels jüngstes Werk Gültigkeit haben, für den Roman Sehr geehrte Frau Ministerin. Darin geht es um zwei Themenbereiche: Einmal um die vielfältigen Formen von Gewalt, Anfeindungen und physischen wie psychischen Verletzungen, denen Frauen ausgesetzt sind, und zum anderen um das Schreiben und die Sprache selbst, um „weibliche Autorschaft“ also, darum, wie Krechel solche Themen in Erzählen umsetzt.
In Krechels Geschichte stehen drei Frauen unserer Zeit im Mittelpunkt, eine Lateinlehrerin, eine Kräuterspezialistin und die im Titel angesprochene Justizministerin, darüber hinaus zwei Frauen, die vor Jahrhunderten gelebt haben, die Römerin Agrippina und die Keltin Boudica, und weitere weibliche Charaktere, die in kürzeren Episoden das Thema Gewalt gegen Frauen von den „Romanrändern“ her vertiefen.
Gewalt gegen Frauen heißt, wie es der Anfang und das Ende des Buchs sprach- und bildgewaltig vorführen: zügellose körperliche Unterdrückung, Verbannung und Mord, auch berufliche Abhängigkeit und Unmündigkeit und schließlich, bei einer der Frauen, bösartige Wucherungen in der Gebärmutter, die zu starken Menstruationsblutungen führen und Operation und Chemotherapie zur Folge haben.
Dieser schweren Erkrankung ist die Lateinlehrerin Silke Aschauer ausgesetzt, die als „Frau mit der roten Mütze“ immer wieder auftaucht und nach und nach die Erzählerin der Geschichte wird. Ein großer Teil des zweiten Kapitels führt ihr Leiden sprachstark vor. „Blut“ ist das Wort, das den Ton dieser Schilderungen bestimmt; ihre rote Mütze ist ein deutlicher Hinweis darauf. „Blut“ verbindet den Mittelteil motivisch mit dem Schluss und dem Anfang des Romans. Blut fließt am Ende, als die Justizministerin plötzlich auf der Straße von einem jungen Mann mit einem Messer angegriffen und am Hals schwer verletzt wird. Ihr kleiner Sohn schreit, als er „das Blut der Mutter sieht, auf dem Schal, auf der Bluse, auf der Hand […], die nach ihrem Hals tastet“. Die Justizministerin überlebt das Attentat.
Wenig glücklich gingen die Attentate im alten Rom aus. Es waren fast immer sorgsam geplante Morde. Agrippina, die Mutter Kaiser Neros, wird im ersten Satz des Romans vom Kaisersohn schmeichelnd als „optima mater“ gerühmt, nur um bald darauf, als sie seinen Machtgelüsten gefährlich zu werden droht, skrupellos beseitigt zu werden. Die Anfänge der neuen Zeitrechnung waren blutige Jahrhunderte. Frauen waren manchmal Täterinnen, in der Regel aber Opfer von Männern, deren Machtansprüchen unterlegen und hilflos ausgesetzt. „Die Frau ist lästig in der Geschichte, in jeder Geschichte, sie muss verschwinden. Am besten: Sie räumt sich selbst aus dem Weg, sodass kein Schatten von ihr auf die Geschichte fällt und die Männergeschichte unaufhaltsam ihren Lauf nimmt.“
Eine weitere Frau spielt im Roman eine wichtige Rolle: Eva Patarak. Das erste Kapitel ist nach ihr benannt. Sie arbeitet in einem Kräuterladen, der ganz stark auf Ältlich-Natürliches setzt und eine kleine dankbare, interessierte Kundschaft anzieht. Aber der Laden kann in einer Zeit sich ständig verändernder Verkaufsstrategien und -ideen nicht rentabel arbeiten und wird geschlossen. Die Verkäuferinnen haben keine Chance, über ihre berufliche Zukunft mit Vorgesetzten zu reden oder zu verhandeln. Alles läuft anonym ab, unerbittlich endgültig und gleichgültig gegenüber den Mitarbeiterinnen: „Wir waren eine arbeitslose, weibliche, lehmige Schicht auf einem abgeernteten Feld; Furchen, Sorgenfurchen überall.“
Eva Patarak ist noch auf andere Weise mit der Gewaltthematik des Buchs verflochten. Ihr Sohn begeht das Messer-Attentat auf die Ministerin. Er ist bei der Tat Mitte zwanzig, Motive wie übermäßiger Computerkonsum oder Einzelgängertum, vielleicht auch Enttäuschung über eine Liebe werden angedeutet. Die Aufdeckung des Attentats, die Suche nach dem Täter und schließlich der Beginn des Gerichtsverfahrens werden ausführlich geschildert.
Der Roman enthält weitere Schilderungen, die zeigen, wie Frauen und Mädchen Gewalt angetan wird. So fügt die Autorin im dritten Buchteil eine verstörende Episode über den sexuellen Missbrauch eines Mädchens durch einen Geistlichen des Bistums ein. Es sind solche Einsprengsel, die das Buch in die unmittelbare Gegenwart führen und ihm eine hohe Aktualität sichern.
Der Roman endet mit der Messerattacke auf die Ministerin in einer Katastrophe. Er bewegt sich aber nicht, wie in vielen anderen Geschichten, geradlinig auf die schlimmen Vorfälle am Schluss zu. Im Gegenteil: Die Autorin erzählt in Sprüngen, Rückblenden, parallel gesetzten Abschnitten, Abschweifungen und Andeutungen, benutzt verschiedene Perspektiven und wechselt die Erzählstimmen. So wird zwar Eva Pataraks Sohn als leicht mysteriös und unzugänglich beschrieben, vielleicht sogar als Stalker. Dass er aber ein Attentäter wird, kommt unvorbereitet, überraschend.
Und, um ein weiteres Beispiel für Krechels Erzählen zu geben, nicht sofort wird klar, wer die Ich-Sprecherinnen sind und wer die Haupterzählerin des Romans ist. Daraus entsteht eine fruchtbare, spannungsgeladene Unsicherheit, die ein Anreiz zum Weiterlesen ist. Leserinnen und Leser sollten nicht vorschnell versuchen, Agrippina, Nero und Eva Patarak und die „Frau mit der roten Mütze“ in größere Szenarien einzuordnen, sondern der Autorin vertrauen, dass alles rechtzeitig zusammengefügt und sich als überschaubares Ganzes vor den Lesern entfaltet.
Die Geschichte um Eva und die „Frau mit der roten Mütze“ bleibt lange Zeit geheimnisvoll. In einem kafkaesk anmutenden Schlussabschnitt des ersten Teils sieht sie die Frau, die ihre rote Mütze mittlerweile abgelegt hat, als Eindringling, als aufdringliche Beobachterin. Im zweiten Teil, der„ab ove“ überschrieben ist, also Aufklärung für noch nicht ganz Klares verspricht, wird dann auch die Erzählerin Silke Aschauer eingeführt, Lateinlehrerin einer Gymnasialklasse. Von diesem Schulfach her verwundern die Agrippina- und Nero-Episoden wenig. Sie sind dem Interesse der Lateinlehrerin geschuldet, genauso wie das nicht geradlinige, zielgerichtete Erzählen, das, so die Erzählerin, für Tacitus charakteristisch ist. An einer Stelle geht Silke Aschauer bewundernd auf den Schriftsteller ein; ihre Sätze lesen sich wie ein künstlerisches Programm der Autorin: „Aber eine solche Gradlinigkeit will Tacitus nicht, sein langer Satz rumpelt über Schwellen, mit dramatischer Wucht tauchen Nachträge auf, kaum wird angedeutet, wohin die Reise geht. Von Zeile zu Zeile verschiebt sich die Situation.“ Das „Rumpeln“ und die „Schwellen“sind also gewollt. Sie erst ermöglichen, die Vielschichtigkeit dessen, was die Autorin erzählen will, in den Blick des Lesers zu rücken, das eine aus dem anderen zu erhellen, die zeitlich weit auseinander liegenden Ereignisse als gleichzeitig und gleichbedeutend ablaufendes Geschehen darzustellen und darin ihren Wirklichkeitsbezug und ihre Aktualität zu betonen.
Die Erzählerin versteht sich als jemand, die alle Geschehnisse in der Geschichte und alle Figuren kontrolliert. Das wird besonders in einer Szene des dritten Teils deutlich. Silke Aschauer begegnet Eva, die auf einer Bank sitzt und auf einen See blickt. Die beiden kommen in ein Gespräch, in dessen Verlauf die erfundene Figur Eva sich verhält, als sei sie eine real existierende Person: Sie beschwert sich, dass ihr Leben und das ihres Sohnes von der Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt eines Romans gestellt werden. In Sätzen wie „Ich wollte jetzt nicht sagen, dass ich sie ganz ausgedacht hatte, dass sie ja nur auf dieser Bank sitzt, weil ich sie dahin gesetzt habe“ wird die faszinierend-eigenartige, nie ganz greifbare Wirkung von Fiktionalität deutlich; die Nähe zum Phänomen absurden Schreibens ist nicht zu übersehen.
Die Szene zeigt noch etwas anderes, das tiefer liegt und auf die Gewaltsituationen, um die es im Roman geht, verweist: nämlich die Möglichkeit der „Übergriffigkeit“ des Künstlerischen selbst. Wenn Eva die Ich-Erzählerin auffordert: „Gehen Sie aus meinem Leben. […] Sie wollen mich auslutschen“, dann liegt darin eine Selbstbezichtigung der Erzählerin und ein Eingeständnis, dass künstlerische Freiheit auch mit Macht und Gewalt zu tun hat, mit der „Manipulation“ der Romanfiguren und gleichzeitig der Leserinnen und Leser.
Das betont auch der letzte Satz des Romans auf frappierende Weise. Er lautet: „Ich mache von meinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch.“ Natürlich bezieht sich der Satz zunächst auf eine Gerichtsverhandlung. Aber gleichzeitig bringt er etwas Schillernd-Ungefähres in die Erzählung hinein. Kann der Leser bei seiner Lektüre überhaupt mit Gewissheiten rechnen? Wer ist das Ich? Wie weit sind das Erzähl-Ich und die Autorin identisch? Was bedeutet künstlerische Freiheit, was Wahrheit? Welche ethische Grenzen gibt es für fiktionales Erzählen?
Ein Bild, das immer wieder vorkommt, prägt die Lektüre in besonderer Weise: Kraniche. „Die Kraniche an den Teichen sind,“ so heißt es einmal, „reines Glück“. Dieses glückhafte Erlebnis, das Kraniche verbildlichen, wird in einer Szene überzeugend dargestellt. Eva Patarak besucht mit anderen Frauen zusammen eine Stelle, von der aus Kraniche gut beobachtet werden können. Eine Frau erklärt ihr Verhalten. Sie führt aus , dass sie in voller Harmonie miteinander leben, ihre Jungen gemeinsam umsorgen und zusammen auf ihre weiten Flüge vorbereiten. Sie verkörpern Freiheit, Leichtigkeit, Ungebundenheit, Grenzenlosigkeit, all das, was Eva im grauen Alltag des Kräuterladens und zu Hause mit ihrem wortkargen, eigenbrötlerischen Sohn nicht erlebt. Die Frauen im Roman kennen keine Friedfertigkeit und Harmonie. Sie ist im Bild der Kraniche als Utopie eingefangen: ein Versprechen einer glückhaften Existenz.
Krechels Buch besticht durch seinen Inhalt, seine Sprache und seine formalen Besonderheiten. Es bietet eine Fülle von unterhaltsamen, auch nachdenklichen Szenen. Sehr geehrte Frau Ministerin ist ein fesselnder Roman: Lesestoff im besten Sinne.
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