Es lebe die Vielfalt
„Poems on the Underground“ begleiten die Londoner seit vierzig Jahren in ihrer Tube
Von Thorsten Schulte
Es kann im Juni sehr heiß werden in den Waggons der Londoner U-Bahn. An einem besonders drückenden Tag sitzt mir ein untersetzter, ungepflegter Mittvierziger mit nassem Shirt gegenüber. Sein Kopf ist leicht nach hinten geneigt, ruht auf einer Falte seines Stiernackens und wackelt gemächlich im Takt der Tube. Mit wachen Augen blickt er scheinbar in meine Richtung, was mich unruhig werden lässt. Bis mir auffällt, dass sein Blick scharf an meinem Kopf vorbei zielt und ein über dem Fenster prangendes Werbeschild fixiert. Als ich sogleich vorsichtig prüfend nachsehe, was meinen Fahrtnachbarn beschäftigt, erblicke ich ein Gedicht von Emily Dickinson: „I stepped from Plank to Plank“. Es handelt von unsicheren Schritten, mit denen sich das lyrische Ich durch die Welt bewegt, von der Zuversicht trotz drohender Gefahren und von Erfahrungen, die auf jeden warten. „Mind the gap“, quakt es aus den Lautsprechern des quietschend zum Stehen kommenden U-Bahn-Wagens. Ich reiße mich von Dickinsons Versen los und verlasse den Zug, auf der Suche nach weiteren Entdeckungen im Londoner Menschengewirr. Schwül und schwer ist die Luft in den engen Gängen, durch die sich ein nicht enden wollender Strom hektischer Anzugträger, offenkundig suchender Touristen, Menschen jeden Alters und jeder Herkunft schiebt. Vor mir zieht eine Frau eine schwere Parfumwolke durch den Tunnel. Hinter mir schreien Jugendliche. Am nächsten Bahnsteig angekommen sehe ich einen alten Mann auf einer Bank sitzen. Sein Blick ist stumpf, das Gesicht ausgezehrt. Wie lange hat er noch zu leben, schießt es mir unvermittelt durch den Kopf. Die Tube fährt ein, sofort erblicke ich wieder eine Tafel mit einem Gedicht: „The Trees“ von Philip Larkin. Es handelt von der Vergänglichkeit, es vergleicht das langsame Wachstum und lange Leben der Bäume mit dem kurzen menschlichen Leben. „Begin afresh, afresh, afresh“, endet es. Und dieser letzte Vers vereint sich in mir mit dem Takt der rumpelnden U-Bahn. Ich lehne meinen Kopf an die Scheibe und denke über das Gedicht nach.
Früher Abend, noch nicht dunkel, in der Tube ist das ohnehin egal. Im weißen Licht der Leuchtstoffröhren erklingt plötzlich Musik, klare Stimme, gesungene Poesie: „The silver swan“von Orlando Gibbons, ein Lied aus dem Jahr 1612 über einen Schwan, der singt, kurz bevor er stirbt. Der Text ist ebenfalls in der U-Bahn zu finden. Wer hier spielen darf, hat das Castingsystem der Londoner Verkehrsbetriebe durchlaufen und eine Lizenz zum Singen. Singen gegen Trübsinn und Vergänglichkeit, das Leben wird gefeiert. Mit einem rund vierhundert Jahre alten Lied. Knappe Abendkleider, küssende Männer mit Sonnenbrillen; es ist doch völlig egal, wer wen liebt. Was für eine großartige Vielfalt! Die Gedichte der „Poems on the Underground“ spiegeln die bunte Vielfalt Londons. Immer wieder werden neue Gedichte auf rechteckige Schilder gedruckt und in den Zügen der Tube angebracht. Seit genau vierzig Jahren existiert das Projekt „Poems on the Underground“ bereits. Millionen von Fahrgästen lasen die Verse und bekamen Denkanstöße, nahmen kleine Anregungen auf ihren Wegen mit und viele wurden zu Fans. Sammlungen der „Poems on the Underground“ erschienen in Buchform, es gibt Poster mit einzelnen Gedichten zu kaufen, eine Website gibt Auskunft über neu in den Bahnen hinzugekommene Gedichte und zeichnet ein „Poem of the Week“, ein Gedicht der Woche, aus.
Ein aktuelles Gedicht der Woche stammt von Mahmud Darwisch. Nur wenige der Gedichte des einst im palästinensischen Widerstand agierenden Autors sind in einer deutschen Übersetzung erschienen. In Großbritannien ist das anders. Der als einer der bedeutendsten modernen Dichter arabischer Sprache geltende Mahmud Darwisch wurde ins Englische übersetzt und ist bekannt. Die „Poems on the Underground“ sind auch politisch, manchmal provokant und in diesem Fall versuchen sie, mit Darwischs Worten eine Brücke im aktuellen Gaza-Konflikt zu bauen. Denn Darwisch rief zum Respekt vor dem Anderssein des Nachbarn auf. Er hielt zeitlebens, bis zu seinem Tod im Jahr 2008, an der Hoffnung auf ein friedvolles Zusammenleben zwischen Israel und Palästina fest. „Green the land of my poem“, heißt das in der U-Bahn angebrachte Gedicht. Es wagt die Utopie eines künftigen Paradieses auszumalen, in dem niemand um Land kämpft. Eine Vision in dunkler Zeit. In einem auf deutscher Sprache erschienenen Gedicht („Identitätskarte“) betont das lyrische Ich: „Ich hasse keine Menschen/ und ich überfalle niemanden“.
Vier islamistische Selbstmordattentäter wollten 2005 in der Londoner U-Bahn und in einem Bus jede Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben aller Menschen zerstören. Sie töteten gnadenlos und wahllos, versetzten London in Panik und beförderten damit den antimuslimischen Rassismus, welcher auch zwanzig Jahre später ein großes Problem in Großbritannien ist. Terror, Krieg, Angst, Hoffnung und Frieden sind wiederkehrende Motive der Gedichte der „Poems on the Underground“. Und in der Circle Line, in welcher das Grauen damals unbeschreiblich war, hängt „The Long War“ von Laurie Lee. Das Gedicht beschreibt, wie Krieg alle Menschen erfasst und wie in Vergessenheit gerät, wer aus welchem Grund zuerst Blut vergoss. Das universelle Leid und der geteilte Schmerz lassen sich auf die Situation der Londoner seit den Anschlägen übertragen. In einem weiteren Wagen hängen fünf Strophen von Lotte Kramer. Sie wurde als Lotte Wertheimer in Mainz geboren und gelangte in einem der letzten Kindertransporte 1939 nach England, wo sie bis heute blieb. Ihr Gedicht „Exodus“ nimmt hierauf Bezug. „Exodus der Kinder“ nannte man die Transporte in Anlehnung an die biblische Exodus-Erzählung, die Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei und ihren Zug durch die Wüste zum Gelobten Land. Jüdische Kinder wurden in Sicherheit gebracht, die Trennung von ihren Familien musste in Kauf genommen werden. Viele sahen ihre Familien nie wieder. In dem Gedicht heißt es, überfüllte Züge brachten die Kinder von zu Hause fort: „Rattling to foreign parts/ Our exodus from death“. Die Tube rattert und klappert. Mir gegenüber hat eine dürre, kränkliche Frau mit ihren Kindern Platz genommen. Erlebtes hat Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie hat dunkle Ringe um die Augen und ist bestimmt jünger als man denken könnte. Ob sie wohl hierher geflohen ist? All die belastenden Konflikte unserer Zeit. Der unerträgliche Angriffskrieg Russlands. Leid und Schmerz.
Die Gedanken schweifen ab in den Tunneln der U-Bahn. Dort scheint der Himmel weit entfernt; Gedichte erinnern an Krieg, Verlust und Trauer. Ich steige wieder aus dem Zug. Und dann steht plötzlich ein Aufsteller mit einem Satz aus Coldplays wunderschönem Song „Fix you“ vor mir: „Lights will guide you home/ and ingnite your bones/ and I will try to fix you“. Lichter führen nach Hause; ich will versuchen, dich zu reparieren, zu heilen. Das ist das Versprechen von zwei „Station Assistants“, Ian Redpath und Jeremy Chopra. Sie sind Mitarbeiter von Transport for London, stellen in den Bahnhöfen Tafeln auf, auf denen Reisende kurze Gedichte und andere Texte notieren können. „All on the board“ nennt sich die Aktion. Zwei Bücher mit inspirierenden Botschaften sind aus ihr bereits hervorgegangen. Dem dazugehörenden Instagram-Kanal folgen 1,3 Millionen Menschen. „All on the board“ ergänzt die „Poems on the Underground“ seit dem Jahr 2017. Auffällig viele dunkle Gedanken werden auf die Tafeln geschrieben. Aber die Gedichte und Aphorismen beschreiben eben nicht nur den Fall in die Dunkelheit. Auf den Boards wird Suizid-Gefährdeten Hilfe angeboten. Und sie geben eine Richtung oder einen Anstoß, sie geben eine Perspektive. Während der Londoner wartet oder im rasselnden Zug sitzt, wird ihm unaufdringlich und beiläufig auf kleinen Werbeplakaten und auf den Boards eine lyrische Hand gereicht. Die „Poems on the Underground“ sind einfach nur kleine Werbeflächen. Aber ich verstehe jetzt ihre Bedeutung. Sie sind Anker. Lyrik kann helfen. Sie werden von den Londonern mit Begeisterung aufgenommen – in welcher Situation sie sich selbst auch immer gerade befinden. Denn trotz allem verlieren die Londoner ihren Mut nicht. „Ingnite your bones“. Lass Lyrik die Knochen entzünden. So feiern Londoner die Vielfalt der Sprachen, die Vielfalt der Poesie – und das Leben.













