Eine Streitschrift nach dem Streitfall
Gertraud Klemms Essay „Abschied vom Phallozän“ kritisiert das Patriarchat und sehnt sich nach einer matriarchalen Gesellschaft
Von Rolf Löchel
Bislang ist Gertraud Klemm vor allem durch ebenso bedeutende wie feministische Romane hervorgetreten. Zu denken ist etwa an Aberland oder ihren jüngst erschienenen Roman Einzeller. Im Frühsommer 2025 machte sie allerdings ungewollt Schlagzeilen, als der Wiener Leykam Verlag aufgrund der Intervention eines queeristischen Internetmobs ihren Beitrag für eine Anthologie kurz vor der Publikation wieder entfernte, weil dem Mob zwei frühere Publikationen Klemms missfielen. Dass nicht alle Verlage vor queerem Antifeminismus einknicken, beweist nun der Matthes und Seitz Verlag, der Klemms feministische Streitschrift Abschied vom Patriarchat veröffentlicht hat.
In ihr schlägt Klemm vor, „Umweltzerstörung, Rassismus, Kriege, globale Ungerechtigkeit unter dem Schirm der Patriarchatskritik [zu verstehen]“. So habe nicht etwa „der Mensch“, sondern das Patriarchat, „die Erde und die Biosphäre auf dem Gewissen“. Denn es halte „unseren Planeten seit 5000 Jahren im Würgegriff“. Heute drücke es sich nicht zuletzt darin aus, dass „immer weniger Männer“ aus kriminellen Motiven „immer mehr Macht [akkumulieren]“. Als Beispiele nennt sie Donald Trump und Elon Musk, erstaunliche Weise aber nicht Peter Thiel. Jedenfalls stehen diese Männer Klemm zufolge für eine „individualisierte, verzwergte Männlichkeit“, „die nur einen winzigen Bruchteil dessen [verkörpert], was Männlichkeit bedeuten kann“. So fehlten ihnen gerade „die plakativsten männlichen oder väterrechtlichen Zuschreibungen“ wie etwa „Kontrolliertheit, Umsichtigkeit oder Ernährer- und Beschützerinstinkt“. Mithin kritisiert Klemm also nicht etwa Männlichkeit ‚an sich’ oder gar Männer schlechthin, sondern das, was seit einigen Jahren mit dem recht schwammigen und eher unglücklichen Begriff toxische Männlichkeit bezeichnet wird. Vor allem aber kritisiert sie eine bestimmte Gesellschaftsform, nämlich die des Patriarchats.
Klemm zufolge ruht dieses auf „drei Säulen“: der „Dysbalance der Geschlechter“, dem Anthropozentrismus und dem „politischen und geistigen Imperialismus“. Mit dem Konzept, ein Viertes auf einer Dreiheit ruhen zu lassen, greift sie, womöglich unwissentlich, zu einem von einer anderen Feministin namens Else Jerusalem vor bald einhundert Jahren entdeckten Ordnungsschema, das bereits seit der Antike in der westlichen Philosophie und Geistesgeschichte präsent ist.
Als „Keimzelle des Patriarchats“ macht Klemm, wie bereits etliche Feministinnen der sogenannten Zweiten Welle, „die heteronormative Kleinfamilie“ aus, die „immer noch der zentrale Baustein unserer Gesellschaft“ ist. Zwar sei es biologisch bedingt, „dass Männer und Frauen Kinder zeugen“, doch sei die Norm, dass eine Familie aus „Mann, Frau und Kind(ern) bestehen muss“, eine patriarchale Konstruktion. Zwei Befunde, die sich schwerlich bestreiten lassen. Fatal ist die heteronormative Kleinfamilie vor allem, weil in ihr „sexuelle und ökonomische Beziehungen“ nicht etwa getrennt, sondern sozusagen zwangsverheiratet sein. Das führt dazu, dass Frauen, zumindest in aller Regel, auch heute noch „bedingungslose Liebe in Form unbezahlter Care-Arbeit abgerungen [wird], während Männer für ihre Arbeit entlohnt werden“.
Wie Klemm weiter darlegt, reicht das patriarchale Konstrukt der Kleinfamilie mit seinen „heteronormativen Prinzipien“ überdies in sämtliche alltägliche Lebensbereiche der Menschen hinein. Nach ihm werden etwa Steuern und Pensionen berechnet, Wohnungen und Städte gebaut, religiöse Narrative entwickelt und deren Feste begangen. Diese Beispiele führt Klemm für die krakenarmige Reichweite des Konzepts der heteronormativen Kleinfamilie an. Kurz, „die Kleinfamilie ist für den Homo sapiens nicht artgerecht“.
Dass das „System Kleinfamilie“ in den Industrieländern „ein Auslaufmodell“ ist, wie Klemm meint, wäre zwar schön, doch spricht trotz der Zunahme anderer Lebensmodelle nicht wirklich viel dafür. Dessen ungeachtet sind Klemms Darlegungen soweit sehr überzeugend, wenn auch nicht immer ganz neu.
Zwar sollte der anstehende „evolutionäre Schritt“ zur Überwindung des Patriarchats Klemm zufolge „intellektuell visionär […] unbedingt möglich sein“, doch sei er „riesengroß und zweifelsohne schwer realisierbar“. Auch das ist ohne Frage zutreffend, wenngleich der lange Weg wohl nicht mit nur einem Schritt zurückgelegt werden kann.
Weit weniger plausibel ist hingegen Klemms Annahme, dass ein gewisses Maß an Spiritualität für feministische Bestrebungen unabdingbar sei. Mehr noch, nicht nur FeministInnen, sondern alle Menschen benötigten Spiritualität, „um sich mit der eigenen Endlichkeit zu versöhnen“. Das scheint geradezu abwegig, würde es doch bedeuten, dass alle AtheistInnen nicht mit ihrer Sterblichkeit umgehen könnten. Jedenfalls propagiert Klemm eine „moderne Spiritualität, die sich am Wissensstand der Gegenwart orientiert […] und Frauen oder nichtmenschliche Entitäten einen spirituellen Platz auf Augenhöhe einräumt“.
Neben dem Patriarchat gilt Klemms Kritik auch dem miserablen Zustand des gegenwärtigen Feminismus, dessen „innerfeministische[] Diskussionen dem ohnehin angeschlagenen weiblichen Solidaritätsempfinden [schaden]“, während Umweltkatastrophen und Kriegen immer rascher aufeinander folgen. Die Erde werde gerade „de facto von ein paar wenigen Männern gegen die Wand gefahren“, doch in den deutschsprachigen Feuilletons beschäftige man sich mit der Frage ob „die Frau einen Penis haben [kann]“, wo der Genderasterisk korrekterweise zu „platziere[n]“ sei und wie das „ultimativ inklusive Akronym“ aussehen muss, „mit dem auch wirkliche all* glücklich sind“. In den sozialen Medien übten FeministInnen wiederum „eine Art von Patriarchatskritik“, mit der sie zugleich „die Mehrheit der Frauen mit den Attributen ‚weiß, cis, hetero‘ als privilegiert ausgrenz[en] und abstempel[n]“.
Klemm bezweifelt, dass eine solche „feministische Taktik“ mehrheitsfähig sein kann. Was wirklich vonnöten wäre, sei „ein feministisches Wir, das als real präsente, kritische Masse aufbegehrt, streikt oder einfordert, anstatt nur zu re-posten“, und ein Feminismus, „der nicht darauf fokussiert, das Frausein völlig von der Mutterschaft abzukoppeln“. Denn „Mutterschaft zum Frausein dazu zu denken“, ist Klemm zufolge „nicht biologistisch, sondern statistisch unumgänglich“.
In dem mit knapp 150 Seiten eher schmalen Bändchen verabschiedet die Autorin jedoch nicht nur das Patriarchat und kritisiert den gegenwärtigen Feminismus, sondern stellt eine matriarchale Gesellschaft als Alternative in Aussicht – in der die Geschlechterhierarchie allerdings keineswegs umgekehrt werden soll, wie vielleicht manche erwarten würden. Vielmehr wird Klemm zufolge in dieser „mangels Hierarchie weder geherrscht noch gefraut“. Warum das so sei begründet sie etymologisch. Da das „‚-archat’“ in Wörtern wie Patriarchat und Matriarchat „nicht vom altgriechischen árchein (herrschen, verwalten) abgeleitet [wird], sondern vom arche (Anfang, Regierung)“, sei „aus der von Menschen(Männer-)Hand installierten ‚Herrschaft’ eine universal gültige biologische Tatsache geworden“. Wie (un)plausibel diese etymologische Begründung auch immer sein mag, so stellt sich in jedem Fall die Frage, ob Regierungen nicht eher dem Herrschen zuzuordnen sind als dem Anfang.
Für manche Menschen, räumt Klemm ein, sei es eine „offenbar zu große Herausforderung, sich eine Gesellschaft ohne Hierarchien jedweder Art vorzustellen“. Der Rezensent muss gestehen, dass er sich zu ihnen zählt.
Dass es, wie Klemm behauptet, in matriarchalen Gesellschaften keine Hierarchien gibt, bedeute zwar nicht, „dass es keine Führungspersonen gibt“. Jedoch mache es die Unmöglichkeit, sich in diesen Gesellschaften (via Amt) zu bereichern, oder „Geld und Güter anzuhäufen“, für Menschen, die nur auf den eigenen „materiellen Vorteil“ bedacht sind, „uninteressant“, eine dieser Positionen zu besetzen.
Klemm feiert matriarchale Gesellschaften zum einen dafür, frei von jeglichen Hierarchien zu sein, und zum zweiten dafür, dass sie von einer ebenfalls matriarchalen Spiritualität durchdrungen sind, die anders als etwa das Christentum „ohne personifizierte Gottheiten aus[kommt]“, dafür aber „neugeborene Kinder […] als wiedergeborene Ahn:innen begrüßt“.
Matriarchate, betont die Autorin nachdrücklich, seien „keine utopischen Hirngespinste, sondern tatsächlich existierende Gesellschaften“. Etliche Beispiele dafür, dass sie wirklich möglich sind, entnimmt sie zum einen aus der Historie, zum anderen verweist sie auf eine Reihe indigener Völker verschiedener Kontinente. In der Gegenwart macht Klemm ungefähr zwanzig „Gesellschaftsformen“ aus, „die matriarchal, matrilinear, matrilokal oder matrifokal organisiert sind“. Dass die meisten von ihnen dennoch keineswegs ideale Gesellschaften sind, erklärt sie damit, dass sie „notgedrungen in den kapitalistischen Kreislauf eingebunden“ sind.
Wie die matriarchalen Strukturen dieser Gesellschaften „funktionieren“ macht Klemm anhand von „vier Kategorien“ deutlich: In ökonomischer Hinsicht werde auf „Subsistenz- beziehungsweise Kreislaufwirtschaft“ sowie „regionale Selbstversorgung“ gesetzt. In sozialer Hinsicht sei nicht die „patriarchalen Kleinfamilie […] strukturgebend“, sondern der „Matriclan“, Dies bedeute, dass „Töchter und Söhne“ auch im Fall einer Eheschließung nicht etwa zueinander ziehen, sondern weiter im jeweiligen Clanhaus leben. Über die Generationen hinweg verbinde die mütterliche Linie die „Sippe“. Auf der dritten, der politischen Ebene werden alle Entscheidungen „nicht demokratisch oder gar diktatorisch“ getroffen, sondern „konsensual“. Das bedeute nicht, dass alle zustimmen, sondern dass alle übereinstimmen müssen. Anders als bei der Zustimmung, genügt es bei der Übereinstimmung, „wenn alle Meinungen gehört werden und am Ende der Entscheidungsfindung kein offener oder verdeckter Widerspruch vorliegt“. Ob das in hochindustrialisierten und komplexen Gesellschaften mit zig Millionen Angehörigen praktikabel ist, sei einmal dahingestellt. Als vierte Kategorie nennt Klemm die Kultur, in der eine „egalitäre Haltung“ sowie ein „Wertesystem der Spiritualität“ gepflegt werden.
Der wohl wichtigste Unterschied der Lebensweise in matriarchalen Gesellschaften zu der in Patriarchaten, sei vermutlich die „Clanstruktur“ ersterer, „in der Kinder bei ihren Müttern im Matriclan bleiben und von allen Clanmitgliedern gemeinsam aufgezogen werden“. Ein weiterer fundamentaler Unterschied bestehe darin, „dass das Liebesleben vom ökonomischen Leben durch die sogenannten ‚Besuchsehen’“ strikt getrennt ist, wobei diese Liebesbeziehungen zu einem Menschen geführt werden müssen, der einem anderen Clan angehört. Darauf, was geschieht, wenn sich Menschen des gleichen Clans ineinander verlieben oder einfach nur Sex miteinander haben wollen, geht Klemm nicht ein. Wird das tabuisiert, werden die Liebenden sanktioniert oder wie sonst wird damit umgegangen?
Jedenfalls haben in Matriarchaten lebende Frauen Klemm zufolge aufgrund der in der Besuchsehe institutionalisierten Trennung von Liebesleben und Ökonomie „in jeder Lebensphase eine bedingungslose ökonomische Sicherheit“. Da „die Erbfolge in der Mutterlinie geregelt“ und die biologische Vaterschaft somit „irrelevant“ ist, gibt es Klemm zufolge auch „keinen Grund, die Sexualität zu kontrollieren“. Aber wie wird dann sichergestellt, dass es keine sexuellen Verbindungen innerhalb des Clans gibt?
Wie dem auch sei, in Deutschland, den deutschsprachigen Ländern, Europa, ja in der ganzen westlichen Hemisphäre und weit darüber hinaus, sind die Anzeichen dafür, dass sich Gesellschaften oder gar die Menschheit in Richtung Matriarchat bewegt, eher gering. Und die „einzige reale Macht“, die FeministInnen und MatriarchatsverfechterInnen Klemm zufolge „kurzfristig haben“, nämlich eine „radikale Exit-Strategie: uns zu bilden, zu vernetzen, zu empören und zu verweigern“ sowie „unseren Körper, das Gebären und den Sex verweigern“, versprechen auch nicht eben den Weg Richtung Matriarchat zu verkürzen oder die Geschwindigkeit auf diesem Weg deutlich zu erhöhen. Mögen „Boykott und Streik“ auch noch so effektive Mittel sein.
Zwar ist Klemms Patriarchatskritik sehr überzeugend. Ihr matriarchales Alternativangebot hingegen allenfalls mit Abstrichen. Und ihre Gedanken über Spiritualität mag der Rezensent gar nicht teilen.
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