Der literarische Text als Geschehen im Leseprozess

Lukas Kosch stellt in seiner Dissertation einen neuen Ansatz zur Leseforschung vor

Von Ute SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kulturtechnik Lesen wird von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in den Fokus gerückt, jedoch ohne einen transdisziplinären Konsens über den Lesebegriff. Die Frage, was Lesen bedeutet, wird von den Kognitionswissenschaften, der Psychologie oder der Literaturwissenschaft unterschiedlich beantwortet. Das Desiderat in der Begrifflichkeit wird flankiert von weiteren Problemen. Es gibt weder eine integrative Leseforschung noch einen institutionalisierten transdisziplinären Austausch über die Erkenntnisse einzelner Studien. Bisweilen wird Leseforschung auch zur Leser:innenforschung unter soziologischen Fragestellungen. Die disparaten Forschungen werden selten zusammengeführt, sondern bleiben oft selbst von benachbarten Disziplinen unbeachtet. Dies ist noch fast ausnahmslos die Ausgangslage für die meisten Studien zur Leseforschung.

Mit der vorliegenden Wiener literaturwissenschaftlichen Dissertation wird insofern disziplinenübergreifendes Neuland betreten, als Lukas Kosch die „Prozesshaftigkeit der literarischen Lektüre“ (S. 8) nicht allein mit den schon traditionsreichen literatur- und rezeptionstheoretischen Modellen erklären will, sondern völlig zu Recht die Ergebnisse empirischer kognitionswissenschaftlicher Forschung einbinden will, da die Integration verschiedener disziplinärer Zugänge zur Analyse des literarischen Lesens ein Desiderat ist. Dieses ambitionierte Ziel erfordert ein transdisziplinäres Forschungsdesign, das die „Interaktion zwischen Texten und Lesenden“ feststellt und typologisiert (S. 11).

Sein Ziel erreicht Kosch in vier Schritten, die die Grundstruktur seiner Arbeit bilden. Kosch diskutiert zunächst die Ausgangslage mit wissenschaftshistorischem Rückblick unter anderem auf die Arbeiten der Konstanzer Schule (Jauß, Iser) und ihrer Verdienste um die Aufdeckung des literarischen Rezeptionsgeschehens. Diese frühen Überlegungen zum ästhetischen Rezeptionsprozess in den 1960er und 1970er Jahren kamen allerdings sämtlich ohne empirische Studien und Fundierung aus. Kosch stellt auch die mittlerweile wissenschaftshistorischen, aber keineswegs überholten Klassiker der empirischen literaturwissenschaftlichen Forschung (Siegfried J. Schmidt) komprimiert vor, zeigt die wesentlichen Erkenntnisse und verbleibenden Desiderate auf. Die zeitgenössische empirische Leseforschung kam Jahrzehnte aus einer ganz anderen Richtung und hat im letzten Vierteljahrhundert Fahrt aufgenommen, wobei die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen meist im Fokus des wissenschaftlichen Interesses stand und steht. Kosch verweist auf die einschlägigen Studien, die vor allem dadurch charakterisiert sind, dass der den Untersuchungen zugrundeliegende Textbegriff nicht eindeutig identifiziert werden kann und die Frage nach dem sinnbehafteten Textverstehen im Vordergrund steht. Hier sieht Kosch eine Kluft zwischen empirischer Forschung und literaturwissenschaftlich theoretischen Modellen, die es zu überwinden gelte. Der von ihm entwickelte transdisziplinäre lesetheoretische Ansatz versteht literarisches Lesen als ein Prozess, der überindividuell „bestimmbare Charakteristika“ aufweist, die der „individuellen Realisierung des Textes vorausgehen und zugrunde liegen“ (S. 35). Literarische Texte werden verstanden als Angebote, die kognitive Prozesse auslösen; literarisches Lesen wird verstanden als Prozess, der auf der Basis von Erfahrung und Wissen mentale Effekte abruft. Diesen Prozess zu zeigen ist Anliegen der Arbeit.

Kosch definiert nach der Grundlegung in einem nächsten Schritt den „Existenzraum der Literatur“, der durch den literarischen Text und durch den Prozess des Lesens aufgespannt wird. Er beruft sich auf Iser, Ingarden, Eco und andere Meilensteine der ästhetischen Rezeptionsforschung. Literarische Texte werden verstanden als Geschehen, das Bekanntes evoziert und modifiziert und Neues einordnet für zukünftige Erwartungen. Mit dieser Reduktion auf die Fundamentaleigenschaften eines literarischen Textes wird Literatur als Geschehen greifbar und verstehbar. Kosch schließt an mit einem Modell des literarischen Textverstehens. Das Modell von van Dijk und Kintsch aufgreifend dienen ihm die Ebenen der mentalen Repräsentation als weiteren Ausgangspunkt. Fünf Komponenten werden für den Prozess des literarischen Textverstehens benannt und ausführlich vorgestellt (S.67ff.): (1) Textbasis (graphemische Wahrnehmung) in stetiger Wechselwirkung mit (2) der Lesehaltung (Motivation, Intention und Aufmerksamkeit einem Text gegenüber); (3) kognitiver Prozess, der je nach Lesehaltung (literarisch/informativ) in ein spezifisches (4) mentales Modell mündet und schließlich (5) emotionale Effekte, die den Prozess begleiten. Grundlegend für die Analyse ist das „mentale Modell“, das als „mentale Konstruktion in funktionaler und struktureller Analogie zu realen Sachverhalten gebildet wird“ (S. 93). Dieses Modell ist dynamisch, veränderbar und wird während des Leseprozesses ständig aktualisiert, wenn sich im Text Ort, Zeit, Raum oder die Figurencharakteristik ändern. Im Modell werden auch abstrakte Dimensionen wie kausale oder zeitliche Beziehungen der Handlung abgebildet. Dieses Modell ist zentral für die Entstehung von Effekten wie z. B. Immersion, Emotion oder Empathie. Erst dieses Geschehen lässt einen Text zum literarischen Werk werden.

Nach den überzeugenden Überlegungen zur theoretischen Grundierung der Arbeit wird in einem dritten Schritt die Frage nach der Operationalisierbarkeit des Modells gefragt. Dies gelingt, indem die Textstrukturen auf ihr Potenzial hin untersucht werden, welche kognitiven und emotionalen Prozesse sie auslösen und erfordern. Die Arbeit verharrt konsequenterweise dann auch nicht in theoretischen Zuspitzungen, sondern diese gelangen im letzten Schritt zur konkreten Anwendung. Am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1817) werden die vorher formulierten Textpotenziale analysiert und ihre Effekte überprüft. Der Sandmann eignet sich insofern sehr gut für eine solche Analyse, als Gliederung und Textform (Briefe und Erzählung) sowie Orts- und Zeitdimensionen eine gewisse Dynamik zu eigen haben. Diese Dynamik macht die flexible Anpassung des mentalen Modells mehrfach nötig, was Kosch in seiner Analyse detailliert vorführen kann. Kosch gelangt in seinem Resümee zu der Feststellung, dass literarische Lektüre nur dann stattfindet, wenn die Aufmerksamkeit der Lesenden „weniger auf der Bedeutungsentnahme von Informationen, sondern mehr auf das Nachempfinden von Gefühlen, Situationen oder Emotionen und die Bildung eines mentalen Modells gerichtet ist“ (S. 225). Dies gilt überindividuell, auch wenn die Ausprägung der Effekte individuell ist.

Die Studie überzeugt in ihrer Struktur und Durchführung. Die konsequente Rückbesinnung auf die rezeptionstheoretischen ‚Klassiker‘ ohne den Ballast wissenschaftshistorischer Debatten ist geradezu erfrischend und gibt den Blick frei auf die wesentlichen Erkenntnisse, die Kosch für seinen transdisziplinären Ansatz gut zu nutzen weiß. Überzeugend im Aufbau und in der Argumentation ist diese Arbeit ein Vorbild für weitere transdisziplinäre Arbeiten in der Leseforschung.

Titelbild

Lukas Kosch: Literarisches Lesen. Von der literaturwissenschaftlichen Lesetheorie zur transdisziplinären Leseforschung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2025.
247 Seiten , 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835358546

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