Ein Schweizer Dichter des poetischen Realismus
Zum 200. Geburtstag von Conrad Ferdinand Meyer hat der Germanist Philipp Theisohn eine umfangreiche Biografie vorgelegt
Von Manfred Orlick
Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898) gehörte neben Gottfried Keller (1819-1890) und Jeremias Gotthelf (1797-1854) zu den wichtigsten deutschsprachigen Schweizer Autoren des 19. Jahrhunderts, der vor allem durch seine historischen Novellen und Romane bekannt wurde. Seine Werke genießen im Vergleich zu Keller heute allerdings merklich weniger Aufmerksamkeit. Der Durchbruch als Schriftsteller gelang ihm erst im Alter von über 45 Jahren.
Zum 200. Geburtstag des Schriftstellers hat der Zürcher Germanist Philipp Theisohn eine umfangreiche Biografie vorgelegt. In zwanzig Kapiteln erzählt der Autor die widersprüchliche Lebensgeschichte von C.F. Meyer als Roman der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im ersten Kapitel „Das Gespenst auf der Rigi“, das gewissermaßen als Einleitung dient, erläutert Theisohn seinen Versuch, das Leben und die Literatur Conrad Ferdinand Meyers miteinander zu verbinden, ohne dabei die Triebkräfte aus den Augen zu verlieren, die Biografie und Werk beeinflusst, ja hervorgerufen haben. Danach wird die Geschichte der Vorfahren, insbesondere der Eltern, im Kontext der historischen Entwicklung der Stadt Zürich beleuchtet.
Großen Raum nehmen die Kindheit und Jugend von C.F. Meyer ein, der am 11. Oktober 1825 als Sohn des Regierungsrates Ferdinand Meyer (1799-1840) in eine Zürcher Patrizierfamilie hineingeboren wurde. Mit fünfzehn Jahren verlor er den Vater. Es folgten Jahre eines äußerst problematischen Verhältnisses zu seiner psychisch kranken und streng calvinistischen Mutter. Mit ihren Depressionen übte sie einen lähmenden Einfluss auf den Sohn aus. Während der Gymnasialzeit entstanden erste lyrische Versuche, doch die Mutter stand seinen dichterischen und künstlerischen Neigungen ablehnend gegenüber und betrachtete ihren Sohn sogar als „verlorenen Menschen“. Der flüchtet bisweilen aus der Stadt in die Bergwelt und akute psychische Krisen führten zu mehreren Aufenthalten in Nervenheilanstalten. Einzig bei seiner jüngeren Schwester Betsy (Elisabeth, 1831-1912) fand er Halt und Zuspruch.
Nach dem Tod (Suizid 1856) der Mutter erlangte Meyer zusammen mit seiner Schwester durch eine Erbschaft finanzielle Unabhängigkeit, was ihm ermöglichte, sich endlich ungezwungen seinen Studien und Interessen in Malerei, Geschichte und Philologie zu widmen. Zunächst unternahm Meyer eine Reise nach Paris und anschließend mit der Schwester eine Italienreise. Die Eindrücke von den Kunstwerken wurden bestimmend für seinen künstlerischen Werdegang.
In den 1850er Jahren fertigte Meyer zunächst Übersetzungen geschichtlicher Abhandlungen und Erzählungen aus dem Französischen an, ehe er 1864 mit einer Sammlung historischer Balladen unter dem Titel Zwanzig Balladen eines Schweizers hervortrat. Von einem literarischen Durchbruch konnte jedoch noch keine Rede sein. Die Veröffentlichung, für die Meyer selbst die Druckkosten aufbringen musste, war vor allem durch die Bemühungen seiner Schwester zustande gekommen, die auch später seine literarische Vertraute und Sekretärin sein sollte, wie Theisohn immer wieder betont: „Conrad dichtet, Betsy fixiert“. Im Jahr 1868 verließen die Geschwister das sie einengende Zürich und mieteten eine geräumige Wohnung in Küssnacht am Zürichsee.
Auch die zweite Gedichtsammlung Romanzen und Bilder (1869) wurde kein großer schriftstellerischer Erfolg. Also aufgeben? Die Zusammenarbeit mit dem Leipziger Verleger Hermann Haessel (1819-1901) ebnete Meyer schließlich den Eintritt in den Literaturbetrieb. Die Veröffentlichung der lyrischen Verserzählung Huttens letzte Tage (1872) brachte dem nunmehr 46-jährigen Meyer eine erste Anerkennung, die auch der patriotischen Gesinnung nach der deutschen Reichsgründung zuzuschreiben war. Bis zur Jahrhundertwende erschienen unzählige Auflagen des Bandes, in denen Meyer allzu offensichtliche Andeutungen zur Gründung des Kaiserreiches beseitigte. Theisohn geht hier nicht nur auf den historischen Kontext ein, sondern auch auf Meyers individuelle politische Haltung.
Durch diesen Erfolg motiviert, führte Meyer seine Beschäftigung mit historischen Stoffen fort. Er beschäftigte sich zwar weiterhin mit Lyrik, widmete sich nun aber verstärkt der Erzählprosa. Als erste seiner insgesamt zehn Novellen erschien 1873 Das Amulett, in Frankreich während der Hugenottenkriege angesiedelt. Mit dem historischen Roman Jürg Jenatsch (1876), eine Bündnergeschichte aus dem Dreißigjährigen Krieg, und den Novellen Der Schuß von der Kanzel (1878) oder Gustav Adolfs Page (1882) festigte Meyer seinen Ruf als hervorragender Erzähler. Meyer fand seine Stoffe in der Geschichte, in historischen Zeitereignissen, vor allem in der Renaissance und der Reformation. Diese bearbeitete er dann häufig über einen Zeitraum von mehreren Jahren.
Im Jahr 1875 heiratete der Fünfzigjährige die aus einem angesehenen Hause stammende Luise Ziegler, was ihm zu gesellschaftlichem Ansehen in der Oberschicht des Schweizer Bürgertums verhalf, jedoch die Beziehung zu seiner Schwester belastete. Zwei Jahre später erwarb das Paar ein Haus in Kilchberg bei Zürich. Ab 1887 traten dann bei Meyer Anzeichen einer schweren Geisteskrankheit auf. Seine letzte Erzählung Angela Borgia (1891) konnte er nur noch unter größten Anstrengungen vollenden. Danach verbrachte er über ein Jahr in der Heilanstalt Königsfelden (Aargau), ehe seine Frau den geistig und psychisch schwer Geschwächten wieder in ihre Obhut nahm. Hier litt er jedoch unter dem dauerhaften Konflikt zwischen Luise und Betsy, die gerade eine Neuauflage seiner Werke in Angriff nahm. Obwohl die letzten Jahre verdunkelt waren, verfasste er noch einige Gedichte, von denen aber nur eines gedruckt wurde. Am 28. November 1898 starb Conrad Ferdinand Meyer im Alter von 73 Jahren in seinem Haus in Kilchberg.
Eingehend behandelt Theisohn Meyers akribisches Arbeitsverfahren, die oft jahrelange Arbeit und hohe Präzision an jedem einzelnen Werk, das letztendlich das Ergebnis eines langen Reifungsprozesses war. Der detailgetreuen Darstellung der Wirklichkeit fügte er poetische Elemente hinzu. Mit dieser realistischen Erzählweise, dem poetischen Realismus, verband er das Schöne und das Erhabene mit der Wirklichkeit.
Theisohns Biografie ist eine chronologische Erzählung des Lebens von C.F. Meyer, das wie seine literarische Existenz von Widersprüchen durchzogen war: der missverstandene Patriziersohn, der gefeierte Novellist, der psychisch Anfällige und der Sonderling der deutschsprachigen Literatur. Mit der intensiven Auseinandersetzung der menschlichen Psyche betrat Meyer die Schwelle zur Moderne. Eingebettet ist die Biografie außerdem in die Geschichte der Schweiz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen rasanten Wandel vom Agrarland zu einem modernen Industriestaat erlebte.
Neben der Biografie aus dem Wallstein Verlag erinnert nur noch der Reclam Verlag mit einer Neuausgabe der Novelle Das Amulett an das diesjährige C.F. Meyer-Jubiläum. Hier thematisierte Meyer die Religionskriege in Frankreich im 16. Jahrhundert und bezog sich speziell auf die Bartholomäusnacht im August 1572 in Paris, bei der 3000 Protestanten ermordet wurden. Protagonisten der Novelle sind der Hugenotte Hans Schadau, der religiösen Fanatismus und schreckliche Massaker erlebt, und der Katholik Wilhelm Boccard, der ihm zweimal das Leben rettet. Die Handlung wird rückblickend von Schadau erzählt. Diese Erzählform, die Personen selbst zu Wort kommen zu lassen, verwendete Meyer gern, da sie ihm mehr Freiheiten erlaubte und ihm half, den Leser tiefer zu fesseln. Viele seiner späteren Geschichten ließ er von Berichterstattern erzählen, die selbst in die geschilderten Ereignisse verwickelt waren.
Neben den individuellen Schicksalen behandelte Meyer auch die historischen Hintergründe des Pariser Pogroms ausführlich. Wie der Herausgeber Alexander Honold in seinem Nachwort zur Entstehung und zum Aufbau des Textes betont, hatte Meyer neben eigenen Recherchen auch bei Zürcher Historikern Auskünfte zum Forschungsstand über die sogenannte Bartholomäusnacht eingeholt. Zuvor war er auf ein Gemälde des französischen Künstlers François Dubois (1529-1584) gestoßen, das in vielen Einzelszenen das Massaker an den Protestanten auf dem Platz vor dem Louvre zeigte.
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