Immer von Wuppertal geträumt

Hanns-Josef Ortheils Roman „Schwebebahnen“ evoziert eine atmosphärische Melange aus Bewunderung und Mitleid

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich habe von 1957 bis 1962/1963 in Wuppertal gelebt und das Seltsame ist, dass ich danach immer wieder von Wuppertal geträumt habe. Und zwar von den Schwebebahnfahrten“, berichtet Hanns-Josef Ortheil.

Ortheil hat über Jahrzehnte Vollgas auf der Überholspur gelebt – als Schriftsteller und als Professor für kreatives Schreiben an der Uni Hildesheim. Er absolvierte ein Mammutpensum und pendelte stets zwischen Hildesheim und Stuttgart. Seine Produktivität ist beeindruckend, die Bandbreite seiner künstlerischen Aktivitäten beinahe einzigartig. Mehr als siebzig Bücher hat er seit 1979 veröffentlicht.

Doch Ortheils Leben auf der kreativen Überholspur hat seinen Tribut gefordert. 2019 wurde eine schwere Herzerkrankung diagnostiziert, die notwendige Operation verlief nicht nach Wunsch, die anschließende Reha war so etwas wie der ‚Reset‘-Schalter in Ortheils Leben. Von seiner Erkrankung, von den Ängsten und vom langsamen Zurücktasten in den Alltag erzählt der sehr persönliche und unter die Haut gehenden Roman Ombra (2021).

In seinem neuen Roman erzählt Ortheil von einem einzelgängerischen Kind namens Josef, ganz stark an der eigenen Biografie orientiert.

Er spielt am liebsten Klavier, und das gar nicht so schlecht. Weil er jeden Tag übt, hat er wenig Zeit, sich lange zu unterhalten. Er wüsste auch nicht worüber, andere Jungs haben Themen, von denen er wenig oder nichts versteht.

Als er Mücke, die Tochter des Gemüsehändlers von gegenüber, die eigentlich Rosa heißt, kennenlernt, entwickelt sich eine enge Freundschaft, die ihm hilft, seine Hemmungen zu überwinden. Mückes aus Sizilien stammender Vater ist ein Kriegsversehrter, der die Schrecken der Vergangenheit vergessen will und der seine ganze Liebe und seine Lebensenergie seiner Frau und seiner Tochter widmet. Persönliche Rückschläge verbinden die beiden Familien miteinander.

Josef verbringt das Gros seiner Freizeit (neben dem Klavierspiel) mit dem Verfassen von Geschichten, in denen die Schwebebahn ein zentrales Motiv ist – das schwebende, sich mit einem Höllenlärm fortbewegende Monstrum über der Wupper. Eine Mischung aus Angst und Faszination prägt sein kindliches Verhältnis zum bekannten Wuppertaler Verkehrsmittel. Und wenn Josef ganz bei sich ist, träumt er davon, dass die Schwebebahn abhebt und in den Wolken verschwindet.

Die Schwebebahn fungiert in Ortheils Roman als omnipräsente Metapher – für die politische Instabilität des Kalten Krieges, für die angeschlagenen familiären Verhältnisse (Mutter und Vater haben sich auseinander gelebt) und für Josefs manchmal hilflos wirkende Suche nach Fixpunkten für seinen kindlichen Alltag.

Ortheil schildert in diesem autofiktionalen Roman die permanente Suchbewegung eines hochbegabten Kindes, das sich in Fantasiewelten flüchtet und von seinen Altersgenossen als spleeniger Außenseiter stigmatisiert wird. Klavierspiel statt Fußball taugt nicht zur Integration, muss Josef mit einer Träne im Augenwinkel feststellen. Der inzwischen 73-jährige Hanns-Josef Ortheil betreibt eine eindringliche rückblickende Selbsterkundung und legt en passant auch noch ein authentisch anmutendes Zeitzeugnis aus einer rund 65 Jahre zurückliegenden Epoche vor. Durch das Erzählen in der dritten Person verschafft er sich etwas Distanz, ohne dabei als allwissender Kommentator seiner Kindheit hervorzutreten.
„Ich glaube, dass das Schreiben des Wuppertal-Romans für mich einzigartig war. Ich hatte das seltsame Gefühl, als schreibe sich der Roman von selbst“, hat Ortheil über Schwebebahnen erklärt.

Wir erleben Josefs Alltag als Leser hautnah mit, den ständigen Wechsel von Auf und Ab – gefangen genommen von Ortheils evozierter atmosphärischer Melange aus Bewunderung und Mitleid.

Titelbild

Hanns-Josef Ortheil: Schwebebahnen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2025.
318 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877846

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