Gefühl in falscher Tonart

Die Verbrechen verschwinden hinter ihrer Rekonstruktion: Thomas Harlans "Rosa"

Von Charlotte BrombachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charlotte Brombach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es besteht in diesem Winter die Gefahr, daß die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen." Sturmbannführer Rolf-Heinz Höppner gebrauchte am 16. Juli 1941 auf diese Weise in einem Brief an Adolf Eichmann den Superlativ des Wortes "human" und gab den Anstoß zum Einsatz von Gaswagen. Es gebe da Vorschläge, die zwar "teilweise phantastisch" klängen, aber "durchaus durchzuführen" seien. Im polnischen Chelmno (Kulmhof) im Wartheland wurde das erste Tötungszentrum in Betrieb genommen.

Das Sonderkommando "Lange" (später "Bothmann") ist für die Vergasung von über 100.000 Juden mittels Kohlenmonoxyd von Dezember 1941 bis März 1942 verantwortlich. Die Leichen wurden in Massengräbern im Wald verscharrt. Im darauffolgenden Sommer hoben sich die Gräber und begannen, unverkennbar zu stinken. Man machte sich Gedanken: "Künftige Generationen könnten diese Dinge möglicherweise nicht verstehen", so Ministerialdirigent Dr. Linden. Das "Kommando 1005" sprengte die Gräber, ließ die Leichen ausgraben, beschaffte eine Knochenmühle, verbrannte die Leichen in Gruben und Öfen zu Asche, zermörserte ihre Knochen zu Mehl. Das Lager von Chelmno wurde 1942 aufgelöst, 1944 kurz reaktiviert. Im Januar 1945 wurde alles in Brand gesetzt, beteiligte Augenzeugen erschossen, das Gebiet aufgeforstet, sämtliche Spuren getilgt.

Thomas Harlan nimmt in seinem Roman "Rosa" die Spuren wieder auf. Aber wie! Er wirft viele Geschichten, viel Handlung, viele Dokumente buchstäblich auf einen Haufen, und man steht zunächst fassungslos davor. Eine Chronologie existiert nur in der fünfseitigen Zeittafel am Ende des Buchs oder auf dem wohlweislich beigelegten Lesezeichen. Die Aufzeichnungen gehen ins Detail, registrieren jedes Stottern in Verhörprotokollen, jede Lücke, jede Wiederholung. Aus einem Sammelsurium an Beweismaterial, das wir vor uns finden, setzt sich eine Katastrophe zusammen. Drei Jahre hatte es gedauert, bis der erste Zeuge "sagen und nicht sagen konnte, warum, wann, wie er, wie alle, wie die siebenunddreißig Familien der Gemeinde und ihr Papst, der Pastor Hermann, wieso er, wieso niemand den Durchzug von siebenundneunzigtausend Gestalten bemerkt hatte", obwohl sie "schon offensichtlich nicht mehr lebend öffentlich ausgekippt worden waren über der Kippe der Blöße des Waldes im bloßen Wald, durch den ihr spaziertet".

Die Geschichte ufert aus, hat mit vielen Menschen zu tun, die historisch verbürgt sind oder nicht, verfilzt sich, spielt an diversen Orten. Immer wieder gelangt der Text an einen point of no return, kommt dem Grauen so nahe, dass nicht mehr weiterbeschrieben werden kann.

Mal zoomt sich der Erzähler hart heran, den Blick starr aufs Objekt gerichtet, mal irrt er in wilden Schwenks durchs Düstere. Wie mit der Handkamera aufgenommen bewegen sich die Bilder ruckartig, sind unruhig, verschwommen. Über die verschiedenen Formen der sich an das Unsagbare herantastenden Unschärfe und den O-Ton der Gerichtsdokumente schichten sich opulente Tonspuren von brachialer Archaik. Die Kapitel verweigern Absätze, strotzen vor kursivierten Einschüben - letzten Endes verschwinden die Verbrechen fast hinter dem aufwendigen Versuch ihrer Rekonstruktion.

Jenes Unbehagen stellt sich ein, das Saul Friedländer in seiner Studie zu "Kitsch und Tod" als Diskrepanz zwischen der Haltung eines Autors - dass Harlan den Nationalsozialismus verurteilt, steht außer Frage - und der ästhetischen Wirkung seines Werkes beschreibt: Dient der Nazismus als "Experimentierfeld für entfesselte Phantasien, für breiten Einsatz von ästhetischen Effekten, für eine Vorführung der eigenen literarischen Brillanz und intellektuellen Kraft", so weicht die Evokation von Grauen und Schmerz nach und nach einer "wollüstigen Beklemmung und hinreißenden Bildern, Bildern, die man unentwegt weitersehen will. Das Ergebnis mag ein Meisterwerk sein, aber ein Meisterwerk, bei dem man das Gefühl haben kann, dass es in der falschen Tonart steht."

Symptomatisch für dieses Transponieren ist die Art und Weise, wie weibliche Körperlichkeit in "Rosa" dargestellt wird. Was sich im Bannkreis des Schreckens an Unbeschreiblichem anstaut, bricht sich hier mit irritierender Wucht Bahn: "Ihr unaufhaltsames Siechtum wie auch das schnelle Welken der brachliegenden, trocken gelegten Büsche, die Józefs Kuppen jeweils mit aufgehender Sonne durchkämmten als Vorwort zum plumpen Abstieg seiner Faust in die von Fingernägeln verwüsteten Grauzonen des steingewordenen Dotters ihrer vom Krebs befallenen und rebenlos verdorrten Stöcke (als sei in der Morgendämmerung besoffen auch das noch schön, was längst nicht mehr wuchs) waren nicht nur Bettstatt aller möglichen Käfer und Fliegenarten, deren Schwärme dem ersten Sonnenstrahl wie Vampire auflauerten; auf ihre verfluchte Weise waren sie auch Józefs Paradies."

Von den Opfern in Chelmno sind in Harlans Roman nur "97.000 Seelen", "Ascheregen" und "Holz gewordene Angst" übriggeblieben, ihre Überreste lassen den auf den Aschegräbern angepflanzten Wald "kollektiv einen seelischen Schock" erleiden, Moos und Birken verinnerlichen das "geballte Feuererlebnis" bis in die Molekülebene hinein, Ginster drückt die Grabhügel in den Boden zurück und macht "die Kreuzung von Kapitalverbrechen und Gartenbaukunst zu einer zweiten deutschen Natur". Pflanzen mutieren, seltsame Tiere siedeln sich an, Vögel verändern ihren Gesang.

Was den Autor interessiert, ist die Nachkriegsgeneration. Aus unterschiedlichen Motivationen haben mehrere Personen die Suche nach der Vergangenheit aufgenommen. Um den Erzähler hat sich eine Arbeitsgruppe geschart, die einen Film über Kulmhof drehen will. Der Engagierteste ist Richard F., Doktor der Theologie und der Tiermedizin und Cousin Gudrun Ensslins.

Seine Recherchen führen ihn über Polen und ein zauberbergartiges Sanatorium in Savoyen ins afrikanische Exil und schließlich in die Krankheit. Er macht den sich bestens über Wasser haltenden Rolf-Heinz Höppner ausfindig und Walter Huppenkothen, jenen Richter, der kurz vor Kriegsende Richards Vater und die Widerstandsgruppe um Admiral Canaris und Dietrich Bonhoeffer hinrichten ließ. Richard hinterlässt Briefe, Fotos, Dokumente, Aufzeichnungen über die Nachkriegskarrieren von Nazigrößen, Studien zur Tier- und Pflanzenwelt.

Der Untersuchungsrichter Karol Leszczynski macht sich aus Wahrheitsliebe auf den "Holzweg". Rolf-Heinz Höppner und Juliusz Hibner, der 1946 30.000 Menschen in Polen umbringen ließ, bilden die beiden "Brandherde", die ihn antreiben: "Leszczynskis Glut, gleichsam noch nie ausgebrochenes und also unlöschbares Feuer, war in seinen ledernen, braungebrannten Sonnenzügen, die das Gesicht zerfurchten wie Moränen, nicht sichtbar. Sie schmorte in ihm. Nur der Geruch vor sich hinbratenden Kabelgummis, an dessen Ausläufern man sich kleine, weiße, in Blasen aus dem halbflüssigen Mantel austretende Luftpilze, schäumende Spucke, vorstellte, ließ darauf schließen, dass er heimlich in Flammen stand."

Die Suche nach der Geschichte wächst sich bald zur Geschichte der Suchenden aus. Zwischen den Kategorien "Wahrheit" und "Rache", "Kunst" und "Sachverstand" geraten sie auseinander. Jeder wird auf seine Art irre am Entsetzen. Die "Vergiftung der Sinne", den Zerfall der Arbeitsgruppe, das Versinken im Konjunktiv, das Abdriften in Vor- und Nachahnungen, Märchenhaftes, den Glauben an schicksalhafte Symmetrien und die Schaffung neuer Mythen zeigt die zweite Hälfte des Buchs.

Was hat das alles mit Rosa zu tun? Rosa Peham, die "geschundene Schinderbraut", aufgeplustert zum Sinnbild deutscher Geschichte, lebt mit Józef unter den Aschegruben im Wald bei Chelmno. Sie ist "weiblich, groß und rund", bewegt sich kaum unter ihrem Federbett hervor, sehnt sich nach ihrem Geliebten, für den das Pferd Franz nur ein schaler Stellvertreter und Józef ein nie richtig akzeptierter Nachfolger ist. Als Geliebte von Franz Maderholz, einem Mitglied des "Kommando Bothmann", kam sie in den unrechtmäßigen Besitz von 3.036 Ringen ermordeter Juden. Ihre Schwester hat ihr aus Neid ein Auge ausgeschlagen. Bei der Gerichtsverhandlung dazu berichten die Zeugen von den Vorgängen im Chelmnoer Wald. Das Verfahren gegen Rosa wird wegen Geringfügigkeit niedergeschlagen, "der neue Tonfall gefunden für Verschweigen; das Plappermaul der Wahrheitsbekloppten gestopft". Die Dokumente jedoch tauchen auf und provozieren Fragen.

"Rosa" ist ein wüstes, ein herbes Buch, das nicht für sich alleine steht: Dem Leser wird neben Lesezeichen, Zeittafel, Fotos und diversen Querverweisen von Mandelstam bis Eco auch noch ein Klappentext mit auf den steinigen Weg gegeben, worin ungewöhnlich viel über den Autor verraten wird. Thomas Harlan, 1929 als Sohn des NS-Propagandaregisseurs Veit Harlan ("Jud Süß") und der Schauspielerin Hilde Körber geboren, hat sich bisher in Filmen, Gedichten und Theaterstücken mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und sich bei Nachforschungen in Polen, Israel (mit Klaus Kinski) und Deutschland Gerichtsverfahren eingehandelt. Aus seinen Recherchen resultierten über 2000 Anklagen gegen Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik.

"Erkenntnisse sind an Zuckermoleküle gebunden, nicht an Elternhäuser", hält er im Text dem (Selbst-)Zweifel an der Motivation seiner Arbeit zwar entgegen, kann seiner eigenen Geschichte jedoch selbst als "gevierteilter Erzähler", als der er im Roman "ich" sagt, nicht entgehen. Seine Jugendbegegnung mit Josef Goebbels fällt dem Ich-Erzähler auf einer reichlich unhygienischen Latrine in Polen sitzend ein. Der Vorgang des Erinnerns wird hier als ein Akt des Ausscheidens beschrieben, bei dem "dir die hartnäckigen Dämpfe deines Kots brühwarm in die Fresse zurück" schlagen. Der Ekel an der eigenen Zeitzeugenschaft wird mehr als deutlich.

Thomas Harlan bringt Geschichte mit der ihm eigenen Besessenheit zum Gären. In seinem ungewöhnlichen historischen Roman gehen Verbrechen unter allerlei Handlungsgewölk, unter den Verflechtungen der an ihrer Recherche Beteiligten verschütt. Geschichte verschwindet unter Geschichten. Nach der Lektüre von "Rosa" weiß man die Schärfe unverstellter Fakten plötzlich zu schätzen.

Titelbild

Thomas Harlan: Rosa.
Eichborn Verlag, Frankfurt 2000.
256 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3821806931

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