"Es lebe die krummnasige Kreatur"

Der etwas andere Celan

Von Jürgen WertheimerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Wertheimer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Gedichte-: diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst" - Paul Celans Definition der Gattung aus dem Jahre 1960 enthält alles Wesentliche, was zum Schreiben von Gedichten "nach Auschwitz" zu sagen ist. Da ist das Thema des Sterbens/des Todes und das der Vergeblichkeit. Ich sage "Vergeblichkeit", wo Celan "Umsonst" sagte. Umsonst aber, so sagt man, ist der Tod. Der kostet auch etwas. Freilich nur das Leben. Der Tod und die Sinnlosigkeit sind die großen Themen der "Moderne". Beides als Massenphänomene.

Und dann ist da dieser merkwürdige Begriff der "Unendlichsprechung". Seligsprechungen und Heiligsprechungen kennt man. Und Freisprüche. Und etwas der darin enthaltenen Vorstellungen schwingt auch im Begriff der Unendlichsprechung mit - "als Sprechen in statu nascendi, freiwerdende Sprache", wie Celan dies in einem Fragment aus den "Meridian"-Materialien benennt. An anderer Stelle findet sich das Notat:

"Endlich - Unendlich" ("Eine Staude Vergänglichkeit", schön - "Unendlichsprechung [...]

Und wieder an anderer:

"Das Gedicht: [...] der Hauch unserer Sterblichkeit, mit dem ein Fragment Sprache hinübergeht ins Nichts [...]".

Schließlich fällt jener Satz, mit dem dieser Aufsatz begann:

"Das Gedicht: o diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst! Dieser Augenblicksglaube an Substantiv und Partizip, dieses den infiniten Formen des Zeitlichen, Ver- und Zugeschworensein!"

"Unendlichkeitssprechung" und "Augenblicksglaube" - Celans lyrisches Sprechen kennt keine Zeitkoordinaten, keine Linearität, ist Wiederholung, "Monotonie", ist zyklische Umkreisung, rabiates Auf-Etwas-Zuhalten und Keinen-Fluchtpunkt-Haben zugleich. Celan umkreist, kreist ein, in immensen Such-Anläufen auf ein längst nicht mehr vorhandenes Flucht-Ziel. In einem anderen Notat im Kontext der "Meridian"-Studien schreibt Celan, wiederum das Ausgangsmotiv aufgreifend:

"'Gedichte-: o diese Unendlichsprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst!' Diese Worte habe ich vor Monaten, aus der unmittelbar empfundenen Freude heraus, dem Brief mitgegeben, der Hermann Kasack, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, dem Lande Hessen und der Stadt Darmstadt, zu danken versuchte. Mit diesen Worten komme ich heute wieder - auch das "oh", dessen Unterdrückung ich, unter dem Gesichtspunkt der modernen Lyrik, erwogen hatte, ist, Sie hören es[,] mitgekommen, und mit ihm, aus derselben Richtung, also herzlich, mein Dank.

Ich habe, von der Sterblichkeit und vom Umsonst her, kein allzu schlechtes Gewissen: ich habe oder zumindest ich hatte, soviel ich mich erinnere - ich gehöre erst seit gestern abend, nach einer recht langen Unterhaltung, wieder zu meinen Lesern -, fast ausschließlich damit zu tun. Was jedoch die Unendlichsprechung betrifft, also die Gedichte als Gedichte, so weiß ich leider nicht mehr genau, wo ich mich damit, beziehungsweise wo das Gedicht sich mit mir befindet. Ich habe vor zwei Jahren ein Gedicht, das "Engführung" heißt, geschrieben, d. h. ich habe mich von diesem Gedicht engführen, also in die Enge führen lassen, ich bin, obgleich ich weiterschreibe, mit meinen Vorstellungen vom Dichterischen, das heißt von der Dichtung als einem nicht bloß persönlichen, ja privaten Problem, in einer ähnlichen Enge - mit einem Wort: ich frage mich, wie wohl auch Sie, ob es da noch ein Weiter gibt, und ob es, von den Dingen her gesehen, die ich schreibe, einen Sinn"

"Sie vermissen hier etwas, ich weiß, Sie vermissen die Fragen der Dichtung als Fragen der Dichtkunst.-"

Etwas Vergleichbares werden auch Sie in diesem Vortrag vermissen. Denn ich möchte nicht im Philologie-Laden nach Celan-Delikatessen kramen. Und auch nicht respektvoll Wortpreziosen herumreichen. Seit wir 1994 mit der Publikation der Tübinger Celan-Ausgabe begonnen haben, mittlerweile liegen fünf Bände einschließlich des "Meridian" vor, habe ich gelernt, was es bedeutet, in philologische Besitzstände vorzudringen oder von ihnen freundlich übernommen zu werden.

Es gilt, Celan wiederzuentdecken. Ihn von seiner Legende zu befreien. Denn inzwischen ist Celan zum Opfer seiner eigenen Diskretion geworden. Alle Anstößigkeiten wurden - nicht zuletzt von ihm selbst - getilgt. Der primäre Eindruck einer obskuren Melancholie, einer religiös getönten Auflösung der Gegensätze dominiert noch immer. Selbst auf dem philologischen Hi-Tech-Feld der Dekonstruktion wurde Celan zum Faszinosum und Fetisch. Hier nur ein einziger jener Dutzendsätze, mit denen man derzeit Summa-Dissertationen angefüllt sieht

"[...] Die dem Textleib eingeschriebene Alterität macht eine hermeneutische Präsenz des Signifikats neuerlich als komplexes mimetisches Erfahrungsmuster [...] verortbar."

So als bemühte man sich, Celans kühne These aus dem Umfeld der Büchner-Preis-Rede retrospektiv zu bestätigen:

"Das Keimfreie ist das Mörderische; [...] im formal designing [es gibt auch ein solches im Philologischen] ist der Faschismus heute."

Ich sprach vom dunklen, stummen, selbstgeschaffenen Celan-Bild. Teilweise trifft es zu, denn nur selten argumentiert dieser etwa im Stile seines Kollegen Erich Fried, der "Judenfragen" so stellte:

Das leise Lachen
der alten chassidischen Frager
in welcher Betonkammer hat es geendet
in welchem Husten
mit welchen Kristallen
aus welchen Büchsen der Degesch

Und die klugen Witze
mit dem traurigen Achselzucken
(sorgfältig aufbewahrt
von Philosemiten)
wem sind sie zugeteilt worden
zur Wiedergutmachung
[...]

Erich Frieds im Motto zitierte fragend-polemische Warnung vor selbstgenügsamem Philosemitismus und platonischen Wiedergutmachungs- und Versöhnungsgesten aus dem Jahr 1972 ist auch hier am Platz. Zumal im Fall Paul Celans, des als sanftmütig, introvertiert Geltenden, des "Dichters mit der großen dunklen Sprache", des "still von uns Gegangenen", über den sich so trefflich feuilletonieren ließ. Wohingegen mancher bei Erich Fried eher geneigt war, zu prozessieren. Bei ihm nämlich ist man unfein gezwungen zu verstehen, was gemeint war. Celan jedoch verwendete nach außen kodierte Sprache.

Weshalb? Weshalb diese Selbstzensur? Weshalb der Verzicht auf Sätze wie diese, allesamt aus den Entwürfen zum "Meridian":

"... humanistische Phrasendrescher, posthume Betreuer jüd. Gedankenguts

Ich sage das nicht, um mich mit diesen Wörtern an irgendeinem heutigen oder künftigen Urteilsspruch zu beteiligen - aber: es wird spät. Und so sage ich es, auf daß sie [...] einen Augenblick lang erzittern und umkehren -.

Es lebe die krummnasige Kreatur!"

"Sprich nicht so viel von Jüdischem [...]- du kennst es ja kaum. Sieh es an, nimm es wahr; sei aufmerksam."

"- i - Nicht indem es vom Ärgernis spricht, sondern indem es [...], unerschütterlich, es selbst bleibt, [...] wird das Gedicht zum Ärgernis - wird es zum Juden der Literatur - Der Dichter ist der Jude der Literatur - Man kann verjuden; das kommt zwar selten vor, [...] geschieht aber zuweilen doch. Ich halte Verjudung für empfehlenswert - Krummnasigkeit läutert die Seele. Verjudung, das scheint mir ein Weg zum Verständnis der Dichtung, nicht nur der exoterischen -"

Und warum fehlen in einem Band wie "Niemandsrose" auf Weisung des Autors Gedichte wie "Wolfsbohne"? Gedichte, die extrem, in extremis sind. In denen es um die eigentliche Erfahrung geht. Die eigene. Um den Ort, "wo / sie mir Vater und Mutter erschlugen".

Das Gedicht enthält die Klage über die zweite Vernichtung nach der ersten der Shoah.

Gestern
kam einer von ihnen und
tötete dich
zum andern Mal in
meinem Gedicht.

[...]

Mutter, wessen
Hand hab ich gedrückt,
da ich mit deinen
Worten ging nach
Deutschland?

Nach Deutschland wo die "Mörder wohnten". Vielleicht fehlt das Gedicht, weil es mehr ist als eine Klage. Es ist eine Beschwerde. Eine heftige, aufgebrachte Beschwerde gegen den zweiten Verrat, die zweite Vernichtung:

Mutter, ich habe
Briefe geschrieben.
Mutter, es kam keine Antwort.
Mutter, es kam eine Antwort.
Mutter, ich habe
Briefe geschrieben an --

[...]

Mutter, sie schweigen.
Mutter, sie dulden es, daß
die Niedertracht uns verleumdet.
Mutter, keiner
fällt den Mördern ins Wort.

[...]

Mutter, ich
bin verloren.
Mutter, wir
sind verloren.
Mutter, mein Kind, das
dir ähnlich sieht.)

Auch möglich, daß Celan auf "Wolfsbohne" verzichtete, weil das Gedicht zu persönlich schien, zu unmittelbar eigene Erfahrung preisgab. Doch selbst distanzierter argumentierende Gedichte aus "Die Niemandsrose" tragen den Duktus unmittelbarer Erfahrung, ein Nachbeben der Ängste, die Signatur der Separation zwischen "den anderen", den "Mördern", den "Henkern" und jenem "uns", "wir", das weiter "wandert":

Judenwelsch, nachts

Ich gab, ich gab - als Stein kommt es zurück.
Es schwirrt,
es trifft.

Im Eiterlicht, im Angesicht
der Mörder, Hände: Schlaft ihr nicht?

Sie treffen. Sie trafen.
Wir schlafen, wir schlafen.

Und jene - die 'andern'?

Wir schlafen, wir wandern. (20.5.1961)

[Variante:
"Im Eiterlicht, im Angesicht
der Mörder ?Henker,, Hände: Schlaft ihr nicht?"

In Celans diskreter Rhetorik sind, aller Verschlüsselung zum Trotz, die Seiten klar benannt: ihr - wir, Licht - Gegenlicht, "Eiterlicht". Narbenspuren. Sichtbar, spürbar. Narbenthematik: Inskriptionen der Vernichtung von den frühen "Aus allen Wunden" bis zu den letzten Gedichten

Zwei Sehwülste, zwei
Narbennähte,
auch hier, quer durchs
Gesicht

Zwischen diesen beiden Bildern, zwischen Wunde und Narbe, bewegt sich die Lyrik Celans wieder und wieder. Nicht etwa so, als vernarbe die Wunde allmählich, oder so, als resorbiere sich die Narbe ihrerseits in der umhersitzenden Haut. Sondern es gelingt der Narbe nicht, sich vollkommen zu schließen: die Nahtstellen bleiben sichtbar, sie entstellen das Gesicht, und weisen rückwindend auf die Wunde hin, die sie verursacht hat.

Zuweilen aber öffnet die Wunde sich wieder: nicht nur jene erste, aus den Jahren der Kindheit zurückgebliebene, von der man vielleicht annehmen kann, daß sie zu denjenigen Elementen gehört, die die psychische Konstitution des Dichters auf dauernde Weise bestimmt hat, sondern vor allem jene andere, unendlich entscheidendere, die die historische Katastrophe, zu deren Opfer und Zeuge er wurde, in seiner Seele hinterlassen hat, in seinen Seelen-Fragmenten, die zu Text-Fragmenten werden. Diese Urszene der individuellen und kollektiven Traumatisierung hat ihre unendlichsprechenden Spuren in Celans Dichtung hinterlassen:

vom Osten gestreut, einzubringen im Westen, gleich-ewig -,
wo diese Schrift brennt, nach dem
Dreivierteltod, vor
der herumwälzenden Rest-
seele

Indem er die Erinnerung der Opfer heraufruft und deren Namen einschreibt auf das Grabmal, das er für sie aufbaut, schneidet Celan eine symbolische Wunde in die Substanz der Sprache: die Spuren, die die traumatische Urszene in seinem Gedächtnis hinterlassen hatte, werden zu graphischen Zeichen, die die Schrift von innen her zersetzen.

Die Wunde, die in Celans Dichtung eingeschrieben ist, deutet zugleich auch auf eine innere Zwiespältigkeit: sie ist im Begriff, zu vernarben, steht aber an gewissen Stellen immer noch weit offen:

Nahtstellen, fühlbar, hier
klafft es weit auseinander, hier
wuchs es wieder zusammen - wer
deckte es zu?
Deckte es
zu - wer?

Stünde die Wunde ganz und gar offen, so würde der Schmerz alles überwältigen und jeglichen sprachlichen Ausdruck unmöglich machen; wäre sie völlig vernarbt, so bliebe keine Spur von ihr übrig, und es gäbe keine Zeichen mehr, die auf sie hinweisen könnten. So deutet die Zwiespältigkeit der Wunde auf das endlose Wechselspiel zwischen Erinnern und Vergessen: die Erinnerung kann nur zur Sprache kommen, wenn das Trauma schon verloschen ist, aber das Trauma kann nicht verlöschen, solange es in der Erinnerung weiter lebt. So steht das Vergessen nicht im Gegensatz zum Erinnern, sondern es ist dessen Vorbedingung. Erst da, wo die Wunde wieder zusammenwuchs, entstehen die Spuren, die das Vergangene sichtbar und lesbar machen. Jenseits der noch klaffenden Wunde, für die es keine Worte gibt, wird der Dichter, für den die unmittelbare Wahrnehmung des Traumas immer ferner in die Vergangenheit rückt, "Heimgeführt ins Vergessen", bis zu jenem Ort, wo die zusammengewachsene Narbe sich ihm als Inschrift der Trauer offenbart. Wunde Inschrift - In-scription - Ver-schlüsselung.

Celan verschlüsselt seine Erfahrung bis zur Grenze des Mißverständlichen. Ich spreche von der Wahrnehmung seiner Texte durch seine Umgebung, nicht von seiner, Celans Haltung. Das tendenzielle Mißverstehen auf der Basis latenten rezenten Faschismus' beginnt mit H. E. Holthusens boshafter "Niemandsrose"-Kritik, in der er Celan gönnerhaft bestätigt, daß dieser die einstmalige "Vorliebe" für die "surrealistische, in X-Beliebigkeiten schwelgende Genetivmetapher" überwunden hätte und der Dichter mittlerweile zu einem "dunkel raunenden, meist trocken-brüchigem [...] Parlando" gefunden hätte. Es setzt sich fort über die unsagbare, unendliche Goll-Affaire mit ihrer grotesken Plagiatsbezichtigung, bis hin zu den in Menschheitspathos und Allgemeinverbindlichkeit schwelgenden Deutungen der siebziger Jahre, - bis hin zu den neunzigern. Noch 1993 "passieren" dem Aachener Germanisten Theo Buck Formulierungen wie "er [Celan] suchte [die Wirklichkeit] nicht als Jude, vielmehr als Mensch unter Menschen" oder daß für ihn "Jüdisches im Humanen aufgehoben" sei.

Pikanterie am Rande: Bei dem Philologen handelt es sich um den Lehrstuhlinhaber der einzigen in Deutschland für Jüdische Literatur explizit ausgeschriebenen Stelle. In einem höchst dubiosen Berufungsverfahren wurde im selben Kontext eine jüdische Bewerberin im letzten Moment von der Liste gekippt.

Celans Texte sind verdeckte Fallen. Oder Lakmus-Streifen für Gesinnungs-Säure. Sie machen verdeckte Faschismus-Partikel sichtbar, erkennbar. Verdeckte Fallen, denn Celan wählt nicht den Weg der direkten Attacke. Er ermöglichte denen, die nicht verstehen wollten, eben dies Nicht-Verstehen. Er erregte keine Skandale, griff nicht die schnell saturierte BRD-Wohlstandsclaque der fünfziger Jahre an, richtete das Wort nicht gegen, sondern an sie, wie zum Beispiel 1958 in einer "Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen":

"Denken und Danken sind in unserer Sprache Worte ein- und desselben Ursprungs. Wer ihrem Sinn folgt, begibt sich in den Bedeutungsbereich von ",gedenken?, ,eingedenk sein?, ,Andenken?, ,Andacht?." Für die Hellhörigeren unter seinen Zuhörern müßte freilich auch dieser ambivalente Modus des Danksagens unschwer als nur leichtverschlüsselte Anklage dechiffrierbar gewesen sein. Die konventionell-urbane Phrase:

"Erlauben Sie mir, [meine Damen und Herren] Ihnen von hier aus zu danken"

bekommt auf der Basis dieser Lesart eine in der Konsequenz nicht minder aggressive Schärfe wie die erwähnten Aussagen Erich Frieds. Aus der Geste des Danks, der Verständigung wird Appell zur Selbstanalyse, Selbstanklage jedes einzelnen unter der Prämisse der Augenzeugenschaft und des Erinnerns. "Meridian", Prüfungsfeld dieses Prozesses ist die Sprache, allein sie:

"Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache.

Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ,angereichert? von all dem."

In diesen wenigen Zeilen sind Glaube und Absage an das Prinzip der Sprache und des Sprechens ausgedrückt. Celans Texte sind keine Versöhnungsautomaten, sondern Spuren-Sicherungs-Protokolle. Schichtenweise abzutragen. Und jede Schicht gilt gleich. Lesen heißt: Eine solche Erinnerungsspur graben, mit den Wörtern nach der zerstörten Wirklichkeit suchen, so wie auch Celan seinen Text, seine Suche ganz buchstäblich mit Graben, Gräbern und Erde, nach der Auslöschung einsetzen läßt: "Es war Erde in ihnen / Es war Erde in ihnen, und / Sie gruben" heißt es im Gedicht "Psalm" in "Die Niemandsrose". Anonyme Zombies, konturlos, kein Ich, kein Du, kein Wir. Wesen, die in keiner wie immer gearteten Beziehung zu einer als göttlich apostrophierten Instanz stehen:

Und sie lobten nicht Gott

[...]

[Sie] hörten nichts mehr;
wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.

Ein Sich-Eingraben, wortlos, gedanken-los, steht am Beginn dieser Anti-Genesis. Und doch ist es exakt diese Abwehrreaktion, die in ihrer Konsequenz zum Ansatz einer neuen Haltung werden wird. Zerstreute Teile verlorener Konzepte von Individualität beginnen in zerstückelten Dialog mit gebrochenen Satzfolgen und Wortresten zu treten. Wenig später werden die entscheidenden Schibboleth-Losungsworte durch die Schleuse der Sprache getrieben, die freilich auch Kerker der Erinnerung ist:

DIE SCHLEUSE

Über aller dieser deiner
Trauer: kein
zweiter Himmel.

........................................

An einen Mund,
dem es ein Tausendwort war,
verlor -
verlor ich ein Wort,
das mir verblieben war:
Schwester.

An
die Vielgötterei
verlor ich ein Wort, das mich suchte:
Kaddisch.

Durch
die Schleuse mußt ich,
das Wort in die Salzflut zurück-
und hinaus- und hinüberzuretten:
Jiskor.

Die Schleuse aber ist kein Durchstieg, kein Wiedereinstieg ins Leben zurück. Wenige Seiten später Anti-Psalm negiert ein Anti-"Psalm" jede falsche Hoffnung:

PSALM

Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.

Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.

Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.

Mit dem unrettbar geretteten Ich geht auch die gerade gerettete Sprache zugrunde. Bisweilen, bis in die Wurzel (vgl. "Radix", "Matrix") zerstört, bricht das Wort förmlich entzwei, wird

nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.

(,Pallaksch. Pallaksch.?)" ("Tübingen. Jänner")

Oder, brutaler, deutlicher, selbst Wunde:

Diesem
beschneide das Wort,
diesem
schreib das lebendige
Nichts ins Gemüt,
diesem
spreize die zwei
Krüppelfinger zum heil-
bringenden Spruch.
Diesem.

........................

Wirf auch die Abendtür zu, Rabbi.

........................

Reiß die Morgentür auf, Ra- - ("Einem der vor der Tür stand")

Weniger von einem Zerfall der normativen Syntax ist hier zu sprechen, als von sprachgestischer Verdeutlichung der Grenzen von Rede, Dialog und Austausch. Das abrupt zerbrochene Schlußwort des Gedichts läßt keine Erinnerungen zu. Das Wort bleibt im Hals stecken.

Celans Textfallen sind letztlich nur leicht getarnt. Wer in sie fällt, will in sie fallen, wer ihnen auf den Leim geht, hat es nötig. Nimmt man ein Wort und hebt es hoch, so kommt darunter noch nicht ganz Vergessenes zum Vorschein. Unter der "Verfreundung" (Contrescarpe) das tödliche "Souvenierchen". Unter dem "Wahn" das Beil des Wansbeck und die Beschlüsse von "Wannsee" ("Huhediblu") Unter dem Gestus der Überzeitlichkeit das Grab mit Todesdatum. In der scheinbaren Ortlosigkeit der Tatort. Hinter dem Jedermannswort das "Mein-Gedicht", hinter dem Rauch die Knochen, hinter dem Kristall das Gas. Celans Poetik des Schreibens entlang dem Wundrand, dem Narbenrand ist nicht auf Heilung angelegt. Es ist eine Art Unheilbarkeit, monotoner, endloser, wiederholter "Unendlich(keits)sprechung", Unheilbarkeitssprechung eines heillosen Heilungsprozesses. Eine Beschwörung der Unheilbarkeit, an deren Ende der ewige, endlose Tod des Überlebenden steht.

Der Überlebenszeitraum ist so gesehen die Spanne der Verlängerung. Ich schreibe, also bin ich nicht. Täter und Opfer werden zu Komplizen: "der Dorn / wirbt um die Wunde", wie es in "Matière de Bretagne" heißt, zu Partnern der Unheilbarkeit:

Fruchtblatt, augengroß, tief
geritzt; es
harzt, will nicht
vernarben. ("Stimmen")

Von der "Niemandsrose" über "Atemwende" bis hin zu "Von Schwelle zu Schwelle", "Fadensonnen" und "Zeitgehöf"t wiederholt sich das Ritual des "Wundsprechens": "Wundgelesen", "wundgeheilt", "erinnerungswund", "wundgerändert", "vernarbt" - "entnarbt", "aufgerissen" sind nur einige der Wörter aus Celans poetischer Anti-Zauberpruch-Sammlung, die nicht die Heilung, sondern die Verhinderung der Heilung zum Ziel haben. "Sich seine Wunden" wieder und immer wieder "umgraben", wie es in "Schneepart" heißt, wo auch von dem

für immer geheutigte[n]
Wundstein

die Rede ist. Der wütende Zwand des Unendlichsprechens nimmt nicht ab. Im Gegenteil: in einer immer saturierteren Wohlstandswelt und einer immer kultivierteren "Erinnerungs-"Kultur, wo selbst das Darüber-Sprechen zu einem Verschweigen wird, steigert sich Celans Gegen-Sprech-Wut:

UND JETZT, bei strategischer
Großlage, klauen-
signiertes
Gesinnungs-Lametta,

eine Wortlitze, rot-
gefüttert,
näht sich den Mündern
gesamtbarock in die
wund-
geschwiegene
Kommissur.

[...]

Am Ende statt des Gesichts die groteske Grimasse:

Zwei Sehwülste, zwei
Narbennähte,
auch hier, quer durchs
Gesicht

Nicht schwächer, sondern stärker, unkontrollierbar wird der Reflex, die Narbe als Wohnort zu wahren: "nackt und messernah". Die schmerzhafte Konfrontation, die Konfrontation mit dem Schmerz wird zur Erinnerungstechnik, zur Obsession. Gewissenstortur, Selbstfolter des "schuldig" Über-lebten, Übrig-Gebliebenen? Tatsache ist, daß das Wortfeld "Schmerz", "Wunde", "Narbe", "Eiter", "Verfaulen" zum Synonym für "Leben" wird. Tatsache ist auch, daß Celan dazu neigt - dies stellt sich mit dem Auswerten des Nachlasses immer deutlicher heraus -, diesen internen Prozeß nach außen zumindest teilweise zu tilgen. Erstens, indem er die Gedichte von der Erstfassung bis zum endgültigen Text "entschärft", veruneindeutigt. Zweitens, indem er die direktesten, unmittelbarsten, persönlichsten, polemischten Gedichte nicht aufnimmt. Drittens, indem er den Ausdruck von Polemik, Wut, "Schroffheit" zurücknimmt. Zum Beispiel in "Atemwende" auch auf folgenden Text verzichtet:

Mutter, Mutter
Der Luft entrissene
Der Erde entrissene
Herunter -
Herauf -
gezerrte.

Vor die Messer
schreiben sie dich,
Kultur-flott, linksnibelungisch, mit
dem Filz-
schreiber, auf Teakholztischen, anti-
restaurativ, prot-
kollarisch, prä-
zise, in der neu und gerecht
zu verteilenden Un-
menschlichkeit Namen,
meisterlich, deutsch...

Bis der "Überlebende" Celan 1970 in der Seine seinem Überleben ein Ende gesetzt hat, hat er versucht, den Prozeß der mentalen Wiedergutmachung durch Wieder-Jud-Machung zu torpedieren. Sein Medium hierfür: die Sprache. Die Dichtung, die - das stillsanfte Celan-Bild ist zu revidieren - dröhnend, nicht raunend auftritt:

Narben-wahr

EIN DRÖHNEN: es ist
die Wahrheit selbst
unter die Menschen
getreten,
mitten ins
Metapherngestöber.

Wer den Metaphernbrei der Gedenkkultur auf Täterseite kennt (hier ein Denkmal, dort eine Synagoge), weiß, daß Celan am kürzeren Hebel saß. Selbst er wurde vom Metapherngestöber der Nachfahren erfaßt und überlagert, bis zur Unkenntlichkeit zerwissenschaftlicht, von Spezialisten seziert, in Gedächtnisvitrinen ausgestellt. Der Traum von "einem Stück unvergrabener Poesie" (Landschaft) ist ausgeträumt: Kommentar und Siglen-überlagert, ist Poesie-Autopsie die Regel. "Knochen-Hebräisch" zu [Philologen-]Sperma zermahlen" (In Prag). Celan hatte zu diesem Punkt recht. "Niemand zeugt für den Zeugen" (Aschenglorie). Er, der sich vor dem Verdacht des Plagiats zu schützen versuchte, ist den Plagiatoren, Vermarktern, Kompensatoren schutzlos preisgegeben.

Ruhe sanft, Celan. "Ruhe aus in deinen Wunden" (Schlußgedicht durchblubbert von "Zeit- und Ungesang", von den "nemtskich infidelium" (Sperber), von "kuschenden Kleinhermetikern" und "knurrenden Großhermetikern" und glimmerkrösigem "bundesgenössischen Denken", "Wahrheitskonsumenten" und Gedenkartikelhändlern:

Ich höre so viel von Euch
daß ich nichts mehr höre
als Hören

lästert Celan in einem Entwurf zu "Schneepart" und verwirft das Gedicht auch gleich wieder. Genauso wie sein wütendes "Zrtsch", das gleichfalls der lyrischen Schere im Kopf präventiv zum Opfer fällt.

ZRTSCH
Zahniger Zorn,
ich zätsche,
zundre?
zaibe

Paul Celan. Ein Gefangener seiner eigenen "Narbenheraldik". Gescheitert. Philologen gerettet. Ein übersterbensgroßer jüdischer Poesie-Clown.

Das Traurigste, das Bizarrste. Der Jude Celan hat sich vom "unheilbaren Le(i)ben" zurückgezogen. Doch seine Karikatur lebt. Und diese Karikatur wird geliebt.

Titelbild

Paul Celan: Der Meridian. Böschenstein, Bernhard (Hg.).
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
297 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3518410067

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