Suche nach Realität im Spiegelkabinett

Harry Mulisch geht in einer gewagten Novelle über die Grenzen der Logik hinaus

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als in den Niederlanden im März 2000 Harry Mulischs Novelle "Das Theater, der Brief und die Wahrheit" erschien, folgte in den dortigen Feuilletons eine heftige Debatte. Ein dort berühmter Kabarettist namens Freek de Jonge hatte dazu aufgerufen, Mulischs Buch zu verbrennen, da er der Ansicht war, dass Mulisch mit seinem Text den Schauspieler Jules Croiset nachträglich von seiner Schuld freisprechen wollte, die der sich im Jahr 1987 aufgeladen hatte. Croiset hatte das ganze Land schockiert, indem er faschistische Drohbriefe gegen seine Person fingiert sowie seine eigene Entführung inszeniert hatte, um gegen die Aufführung von Fassbinders latent antisemitischem Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" zu protestieren. Kabarettisten neigen oft zu Simplifizierung und Überzeichnung, aber Stil und Inhalt der geschmacklosen "Kritik" de Jonges (auch in den Niederlanden wies man darauf hin, dass gerade Menschen, die gegen den Faschismus sind, Bücher auch nicht zum Scherz verbrennen sollten) zeugen weder von literarischer Sensibilität noch von charakterlicher Größe. Gewiss weniger radikal in der Ausrichtung, aber von einem ähnlichen Ansatz ausgehend, bemühten sich auch die niederländischen Kritiker befremdlicherweise in erster Linie um die Frage, wie man Literatur in ihrem Verhältnis zur Realität zu interpretieren habe, und nur in zweiter Linie um den Text als solchen, der doch eigentlich im Zentrum der Aufmerksamkeit von Literaturkritik stehen sollte.

Aus erzähltechnischer Sicht ist Mulischs Text, der im Untertitel nicht zufällig die Gattungsangabe "ein Widerspruch" erhielt, ein Wagstück der besonderen Art. Diese Novelle wird in vielen kommenden Erzähltheorien angeführt werden als seltenes (einziges?) Fallbeispiel "logischer Unmöglichkeit". Denn Teil eins und Teil zwei, getrennt durch ein kurzes Zwischenspiel, schließen einander radikal aus. Im ersten, längeren Teil sitzt ein Schriftsteller namens Felix vor seinem Videorecorder und spult immer wieder, mitschreibend, eine zwölf Jahre alte Aufzeichnung ab, in der der Schauspieler Herbert Althans bei der Trauerfeier seiner Frau Magda, die sich das Leben nahm, ein bemerkenswertes Geständnis ablegt. Da seine Frau aufgrund der antisemitischen Briefe depressiv wurde, wollte er sie von ihrer Schwermut gewissermaßen heilen, indem er so tat, als habe er diese fingiert - nach dieser Aussage wären die Briefe also in Wahrheit echt gewesen. Um glaubhafter zu sein, habe er dann auch seine Entführung inszeniert. (Doch diese Lüge 'heilte' Magda in keiner Weise, sondern stürzte sie nur noch tiefer in die Verzweiflung, weshalb sie letztlich den Freitod wählte. Freek de Jonge blendete in seiner 'Interpretation' alles außer eben diesem Faktum aus, dass hier die fiktive Figur Althans behaupten lässt, dass die Briefe echt waren, wo doch die Briefe des realen Croiset nachweislich gefälscht waren.)

Im zweiten Teil sehen wir Vera, eine mit Felix befreundete Schriftstellerin, wie sie die Beichte Magdas am Grabe ihres verstorbenen Ehemanns Althans zu Literatur umsetzen will. Die Tote ist also nun wieder lebendig und der 'Täter' aus dem ersten Teil liegt nun im Sarg. In dieser Version verfasste Magda die Briefe, um zu unterstreichen, dass die Befürchtungen ihres Mannes, es könne jederzeit wieder antisemitische Verhältnisse geben, durchaus begründet seien, was diesem aber so zusetzte, dass er verstarb. Auch hier handelte jemand nur aus Liebe und machte genau dadurch alles noch viel schlimmer. Und was das Ganze zusätzlich verkompliziert: Nie kann man wissen, ob die Figuren in ihren Pseudo-Beichten auch tatsächlich die Wahrheit sprechen.

Mulisch ist ein viel zu anspruchsvoller Autor, um ein formallogisches Spiel als reinen Selbstzweck durchzuführen. Er zielt vielmehr ab auf tiefergreifende Überlegungen. Sein Text ist ein Spiegelkabinett, in dem sich Wahn und Wahrheit, Schein und Sein planvoll verwirren, bis deutlich wird, dass es keine Gewissheit über andere Menschen gibt, vielleicht nicht einmal über sich selbst. Nur die Literatur mit dem Autor als Quasi-Gott, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind, vermag ein wenig Licht ins Chaos zu werfen, vor allem dann, wenn sie auf eindeutige Antworten verzichtet. Mulisch liefert auch die poetologische Legitimation für sein Vorgehen: "Keiner weiß mehr, was das Wort Tragödie meint: das Aufeinandertreffen von zwei unvereinbaren Wahrheiten." Theater, Brief und Wahrheit sind nach dieser Definition Bauformen einer Prosatragödie.

Die Novelle ist nicht nur strukturell raffiniert, sie zeigt auch im sprachlichen Detail, warum Mulisch bei vielen als der bedeutendste niederländische Autor der Gegenwart gehandelt wird. Wendungen wie "ein Sarg, der in voller Blüte vor uns stand" oder "Tot werde ich nur für die Lebenden sein, nicht für mich selbst. Tot sind immer die anderen" besitzen Widerhaken, die sich im Denken festsetzen. Auch in den literarischen Anspielungen zeigt sich Mulisch gewohnt feinsinnig. So probt der Schauspieler Althans im Lauf seiner fingierten Entführung ausgerechnet Pirandellos "Heinrich IV", ein Stück also, in dem die Hauptfigur sich bekanntermaßen ebenso heillos verstrickt in ein Netz aus Wahnsinn und Hellsichtigkeit, aus Spiel und Realität - man sieht, bei Mulisch sind auch die Details keine Zufälligkeiten.

Gewiss, gemessen an den meisterlichen Romanen "Höchste Zeit", "Die Entdeckung des Himmels" und "Die Prozedur" mag die vorliegende Novelle wie eine Petitesse aussehen. In Wahrheit aber nimmt sie in Mulischs Œuvre einen bedeutenden Platz ein, nicht nur durch ihren erzähltechnischen Ausnahmestatus bedingt.

Titelbild

Harry Mulisch: Das Theater, der Brief und die Wahrheit. Eine Widerrede.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
104 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 3446199160

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch