Falsch verbunden!

Der neue Roman des italienischen Kultautors Alessandro Baricco

Von Oliver SeppelfrickeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Seppelfricke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 1958 in Turin geborene Alessandro Baricco galt lange Zeit in Italien als literarischer Wunderknabe. "Seide", sein erster großer und spektakulärer Erfolg, brachte ihm den Ruf eines Kultautors ein, der mit der Übersetzung dieses und seiner Folgewerke auch zu uns drang. Baricco hat vier Romane veröffentlicht, dazu einen Aufsatzband über Musik (sein Steckenpferd), jüngst ist das Theaterstück "Novecento" herausgekommen, das erfolgreich verfilmt wurde. Keine Frage: Dieser Mann kann schreiben,wenn er will. Denn in der letzten Zeit haben die Bücher Alessandro Bariccos zwar immer mehr an Umfang gewonnen, seine literarische Qualität jedoch, die man an ihm so sehr rühmen konnte, hat sich stark verflüchtigt. Das gilt leider auch für sein neuestes Werk, den Roman "City".

"City" spielt in einer ungenannten Zeit an einem ungenannten Ort. So viel ist jedoch sicher, es werden unsere Tage damit gemeint sein. Shatzy Shell, 30, und der 12-jährige Knabe Gould sind seine Hauptpersonen. Sie bilden ein ungleiches Paar. Beide teilen eine Vorliebe: Sie erzählen. Bei Gould, dem kleinen Genie, ist das verständlich: Sein Vater ist fort, er arbeitet in einer anderen Stadt, und seine Mutter ist in einer Nervenheilanstalt. Doch der Schablonen nicht genug, es kommt noch schlimmer! Gould ist ein Physikgenie, eine Intelligenzbestie, die mit elf Jahren ihre Abschlussarbeit über "Die Auflösung des Hubbardmodells in zwei Dimensionen" geschrieben hat. Und wer so intelligent ist, hat folglich ein eigenes Zimmer auf dem Unicampus, studiert und ist wegen zu viel Klugheit allzu schnell alleine. Shatzy Shell, seine ältere Freundin, gibt sich, nachdem sie ihren Job verloren hat, als Goulds Kindermädchen aus. Damit die beiden ungehindert schwadronieren können. Gould, der Wunderknabe, und Shell, die Quasselstrippe, vertreiben sich ihre Zeit mit Reden. Woran in einem Roman überhaupt nichts auszusetzen wäre! Wären da nämlich spannende oder witzige oder sonst wie ansteckende Themen, die einen Leser bei der Stange halten könnten. Doch bei Alessandro Bariccos neuestem Werk ist da Fehlanzeige.

Als Rahmenhandlung hat sich der Autor immerhin ausgedacht, sein Pärchen an die Würstchenbude und zum Wohnwagenkauf zu schicken. Zwischen diesen beiden dürftigen Aktionen liegen 300 Seiten absatzlos erzählte Geschichten. Geschichten über verpasste Rendezvouz' und Kindersorgen, und vor allem zwei uramerikanische Mythen: Gould, der ein Stimmengenie ist, macht einen Radiosprecher nach und erzählt die Geschichte vom Boxer Larry Gorman, wie dieser hochkam und dann niederging. Doch weil das auf Dauer zu wenig ist, kommt eine zweite Geschichte dazu: eine Westerngeschichte um die Stadt Closingtown, in der sich ein wortkarger Sheriff mit allerlei schießwütigen Frauen und Kartenspielern anlegt. In einer Art Erzählstakkato tragen Shatzy Shell und der Knabe Gould diese Geschichten vor, die irgendwo zwischen Satire und realistischem Märchen, zwischen Klamauk und Klamotte liegen, zwischen Breitwandfilm und Groschenroman.

Man kann bei der Antwort auf diese Frage einen Eindruck nur schlecht abwehren: Dass nämlich Alessandro Baricco, der in Italien eine der besten Werkstätten für "Kreatives Schreiben" anbietet, immer mehr Material hieraus in seine Bücher einfließen lässt! Und dass er sich immer weniger Mühe macht, als ernsthafter Schriftsteller große Literatur zu schreiben! Denn die braucht etwas mehr als nur Zeit und Schweiß und Mühe. Und damit der Schelte noch nicht genug! Vielleicht sollte Alessandro Baricco gar gleich Drehbücher für Hollywood schreiben und sich und uns den Umweg über ein Buch ersparen! Denn seine Bücher sind als Film sehr gut vorstellbar und scheinen dann sogar toll zu sein - als Film freilich!

Titelbild

Alessandro Baricco: City. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Anja Nattefort.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
331 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3446199047

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