Die Verteidigung der Kindheit
Martin Dornes wichtiger Beitrag zur psychoanalytischen Kleinkindforschung
Von Martina Müller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIm Anschluss an die Studien "Der kompetente Säugling" (1993) und "Die frühe Kindheit" (1997) entstanden, rundet sich das Werk des Soziologen und Gruppenanalytikers Martin Dornes mit "Die emotionale Welt des Kindes" zur Trilogie. Anstoßpunkt der Studie ist das von Autoren wie Richard Sennet oder Michael Lewis konstatierte Verschwinden der Vergangenheit als einer für die gegenwärtige Lebensführung unerheblichen Größe. So haben die kindlichen Erfahrungen und die erlebte Beziehungsqualität in der Kindheit einen nur geringen Einfluß auf das spätere Handeln und Fühlen.
Den Gegenbeweis tritt Dornes mittels der modernen Psychoanalyse und Bindungstheorie an, die sich im Unterschied zu ihrer klassischen Variante weniger an 'großen' Themen wie dem ödipalen Drama, der Entwöhnung oder der Kastrationsangst orientiert, sondern real stattfindende "Mikrotraumatisierungen" (z. B. durch andauernde, aber 'undramatische' Zurückweisung durch die Eltern) für den Verlauf der späteren Biografie verantwortlich macht. Aus der Beschaffenheit von Risiko- und Schutzfaktoren, vor allem aber aus der Bindungsqualität, wie sie beim Kleinkind festgestellt werden kann, lassen sich eine Reihe zutreffender Vorhersagen über die weitere sozioemotionale Entwicklung ableiten.
Nennen "sicher" gebundene Kinder im Alter von zehn Jahren eine realistische Zahl guter Freunde ihr eigen, so vermindert sich diese Zahl bei den "ambivalenten" Charakteren. Kinder mit einem als "vermeidend" einzustufenden Bindungsverhalten haben in diesem Alter schon erhebliche Mühen, Gefühle wie Kummer und Traurigkeit im Gespräch zu thematisieren. Trotz dieser Belastungen muss die frühe Kindheit nicht als Schicksal erlebt werden. Auch Eltern mit schlechten Kindheitserfahrungen können als autonom klassifiziert werden, wenn sie ihre Erfahrungen "durchgearbeitet" haben.