Kompass subjektiver Orientierung

Alexander Kluges "Chronik der Gefühle"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Chronik der Gefühle ist etwas anderes als eine gefühlige Chronik. Eigentlich kennt die Chronik gar kein Gefühl, eigentlich fehlt der Chronik alles Emotionale, die Freude ebenso wie die Trauer. Eigentlich, vielmehr prinzipiell, sind Chroniken und Gefühle Gegensätze. Eine Chronik ist die sachlich nüchterne Aufzeichnung von Geburt und Tod und dem, was sich zwischendurch ereignet und für nennenswert erachtet wird. Was das im Einzelnen war oder sein konnte, wie es chronikalisch zu erfassen war und wie es erfasst wurde, dafür gibt es und gab es eine Nomenklatur, ein Begriffsregister oder wenigstens Erfahrungswerte bei den geistlichen und weltlichen Amtsträgern, die mit der Führung der Chronik betraut waren. So finden wir hier - neben Geburt und Tod - große Katastrophen, Ernteausfälle, Hungersnöte und Kriege, vielleicht auch die Spanische Grippe verzeichnet. Gefühle hingegen sind nicht erfasst: Die Chronik ist die kalte, papierene Verschriftung des Gewesenen in dürren, vorgestanzten Worten, ist Teil dessen, was geschehen ist und festgehalten werden muss.

Eine "Chronik der Gefühle" ist eine Kontradiktion der Gattung, und so ist schon der Titel von Alexander Kluges monumentalem Werk Programm: Er wirft ein Schlaglicht auf das, was für gewöhnlich nicht Eingang findet in die Geschichte, auf das, was die Daten nicht erzählen, was sie allenfalls ahnen lassen, zum Beispiel das große Leid, das hinter den Sterbelisten der Epidemien steht, die Trauer des Vaters über den Tod von Frau und Kind im Wochenbett, der Dammbruch und die Flutwelle, die dem Bauern das Vieh ertränkt und die soziale Katastrophe herbeigeführt haben.

Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" ist eine Zusammenstellung alter und neuer Texte. Eingegangen sind aus seinem bisherigen Werk die "Lebensläufe" (EA 1962), der Roman "Schlachtbeschreibung" (EA 1964), die "Lernprozesse mit tödlichem Ausgang" (EA 1973), die Chronik "Unheimlichkeit der Zeit" (1977) sowie verstreut Publiziertes. In dem hier vorliegenden Werkkomplex manifestiert sich der Anspruch des Suhrkamp Verlages, die gesamte "Physiognomie" des Autors zu zeigen. Das Werk repräsentiert ein auf die Lebenszeit des Autors angelegtes Programm, es möchte zugleich die "Lebensprogramme" der Zeitgenossen in sich aufnehmen, wie sie sich individuell oder kollektiv vollziehen. Nur am individuellen Fall jedoch lassen sich auch die Gefühle demonstrieren. Die globalen Umwälzungen hingegen, die sich parallel dazu - und nur gespeist aus dem Individuellen - vollziehen, bleiben distanziert, sind Bild bloß, Icon, Metapher, Symbol.

"Wenn ich etwas verstanden habe, setze ich mich in Bewegung, reise, handle, oder ich schreibe ein theoretisches Buch. Dies hier ist keines. Deshalb meine ich nicht weniger, was ich schreibe. Ich fange aber nicht an, die niedergeschriebenen Geschichten nachträglich ,auszubessern'. Ich könnte z. B. Irrtümer, historisch Unzutreffendes, Missverständnisse (,was ich selber nicht begriffen habe, während ich schrieb') durch Zusätze aufklären. Das ist nicht die Form, in der die Geschichten erzählt sind. Diese Form ist ein Gefühl, das nur einmal misst, und war es theoretisch (= betrachtenderweise) falsch, dann ist es falsch und misst so auch."

Das Zitat sagt bereits eine Menge darüber aus, wie Alexander Kluges Werk gearbeitet ist. Es orientiert sich zwar an der Chronik, zu deren Merkmalen es gehört, Einträge unter das Primat des "hic et nunc" zu stellen und auch unverändert stehen zu lassen. Im Gegensatz zum Kirchenbuch jedoch lernt das tätige Subjekt (es manifestiert sich im Personalpronomen "Ich") hinzu, begreift besser und macht neue Erfahrungen. Daher gehen in seiner "Chronik der Gefühle" Wissen und Erkenntnis mit der Zeit. So gibt es verschiedene Verstehensformen, darunter auch Missverstehensformen, die für den, der schreibt, reist oder handelt, unterschiedliche Bedeutung, Gültigkeit und Relevanz haben. Das Vortheoretische und Missverständliche hat dabei nicht weniger Anspruch auf Betrachtung als das theoretisch Verarbeitete und adäquat Verstandene.

Alexander Kluges "Chronik der Gefühle" erzählt Geschichte, die fünf Themenbereichen zugeordnet werden kann: der Revolutionsthematik (Französische Revolution, Oktober- und Novemberrevolution), der Kriegsthematik, Ideologiegeschichte, Individualgeschichte (Geschichte des Eigensinns) und der Zeitlichkeit des Daseins. Alle Darstellung unterliegt dem (nur selten ausgesprochenen) Primat der Authentizität. Die Ausgangs- und Zielmedien sind Literatur und Film und vermitteln zwischen dem Individuum und dem Kollektiv: denn die Gefühle, die ausgelöst wurden, haben nicht nur den Erzähler geprägt.

Die Lektüre dieses opulenten Werkes erzeugt ein ganz eigenes Gefühl, das von Anfang an da ist und sich stetig verstärkt: das Gefühl der Verunsicherung. Der Rezipient ist unsicher, was hier echt, was fingiert ist, was den Fakten entspricht und als authentisch gelesen werden muss, und wo das Fiktive hinzutritt, das Fiktionale als Ausdruck schöpferischer Autorschaft. An dieser "offenen Grenze" operiert der Geschichtenerzähler Kluge. Authentische Vorfälle sind Auslöser für eine semi-dokumentarische Prosacollage, die zur Materialsammlung tendiert. Wie alle Werke des Autors setzt auch die "Chronik der Gefühle" nicht auf die lineare Lektüre von über zweitausend Seiten Text, sondern auf "Eigensinn" und Eigeninteresse des Lesers, der sich die "Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben".

Die Unsicherheit des Lesers über den jeweiligen Status des Erzählten speist sich aus der gesuchten Realitätsnähe der dargestellten Welt, sowie aus den zahlreichen Fotos und Dokumenten, die integrale Bestandteile des Werkes sind und seinen "analytischen Grundriss" illustrieren. Ferner aus der Haltung des Erzählers, seine "Lebensläufe" als "Formen" und "Gefäße" begreifen zu wollen, die Gefühle nicht beschreiben, aber in sich aufnehmen können. Überhaupt wird den Gefühlen bescheinigt, dass sie nur schwer artikulierbar seien, was wiederum eines der Hauptthemen von Kluges Werk ergibt, nämlich die Artikulierbarkeit, Thematisierbarkeit, Verbalisierbarkeit des Gefühls, kurz: seine Sprachlichkeit.

"Was sollen die Worte! Es ist ein Gefühl.", heißt es im ersten Heft dieser Chronik über einen Hauptmann der Reichswehr, der seine Stalingrad-Erinnerungen nicht verarbeiten kann: "Er hat ausreichend Zeit, dass diese Gefühle, allerdings unterhalb der Sprache, in ihm anlangen." Der Hauptmann ist der Hölle des russischen Kriegswinters entkommen, er durchläuft verschiedene Stationen der Regeneration, doch niemand leitet ihn an, die Zeit in den Lazaretten und in der Etappe in "Gefühlszeit" umzusetzen, sprich, seinem Bedürfnis nach Konsistenz, Sinn und Wirklichkeit nachzugehen. Der Hauptmann verliert die Nerven, wird vor ein Kriegsgericht gestellt und stirbt im Gefängniswagen, von Tieffliegern getroffen.

Der Krieg ist auch hier der Vater aller Dinge. Die Kriegsfolgen, emotional nicht zu bewältigen, schleudern die "Befreier" und die "Befreiten" noch heute ins Trauma. Wie eingeengt und zugeschnürt versuchen sie, die Vergangenheit auszublenden oder zu verarbeiten. Noch auf der Ebene des Gestaltlosen, unterhalb der Sprache Liegenden, entfaltet der Krieg seine unheimliche Virulenz: er hat ganze Generationen gezeichnet. So erinnert die "Chronik der Gefühle" bisweilen an das "kollektive Tagebuch", das Walter Kempowski unter dem Titel "Echolot" (1993 und 1999) vorgelegt hat, oder an "Geschichte und Eigensinn", das 1981 mit Oskar Negt verwirklichte Parallelprojekt zur "Macht der Gefühle" (1984).

Schon in früheren Projekten hat Kluge gezeigt, dass Gefühle etwas Gestaltloses sind, dass sie der Verarbeitung bedürfen und sich in der Verarbeitung verändern, dass dafür gegenwärtig ein breites Angebot an Mitteln und Wegen bereitsteht. Therapeutische oder klinische Methoden sind da ebenso bewährt wie autochthone, die ins Kreative spielen. Aufgabe des Autors ist es, "wirkliche Erfahrungen" wiederzugeben, die "sinnlich gemacht worden sind", die "Menschen getroffen haben".

Titelbild

Alexander Kluge: Chronik der Gefühle. 2 Bände.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
1.004 und 1.032, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3518412035

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