Das Rad der Zeit dreht sich weiter

Jutta Heeß über Bruno Hillebrands "Ästhetik des Augenblicks"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Augenblick ist Ewigkeit." Selbst Goethe hatte gelegentlich Sinn für vermeintliche Absurditäten. Vermeintliche, wohlgemerkt, denn hinter diesem auf den ersten Blick paradoxen Vergleich steckt Wahrheit.

Bruno Hillebrand, Professor der Literaturwissenschaft an der Universität Mainz, hat sich eines literarischen Zeit-Phänomens angenommen: In seinem Buch "Ästhetik des Augenblicks" stellt er auf anschauliche und spannende Weise die Bedeutung des Augenblicks von Goethe bis zur Postmoderne dar. "Welche Rolle spielt der kleinste erfahrbare Moment im Schaffen der Dichter?" - ist die generelle Frage dieser Untersuchung.

In der Aufklärung bricht der Glaube an die religiös motivierte Ewigkeit zusammen, die poetischen Kräfte konzentrieren sich auf den emphatischenen Augenblick. Der Verlust der Unendlichkeit muß ersetzt werden und wird im "Hier und Jetzt" aufgefangen.

Goethe macht den ersten Schritt auf diesem Weg in die sich beschleunigende Zeit. Ihm folgen die Romantiker, für die eine intensiv erlebte Gegenwart die Angst vor der Vergänglichkeit kompensiert - unter anderem wird dies in Ludwig Tiecks "William Lovell" deutlich. Der Augenblick wird kürzer, erfüllter und somit qualitativ wertvoller. Über Kleist und Büchner gelangt Hillebrand zu dem flammenden Verfechter des "schöpferischen Augenblicks", Friedrich Nietzsche. Dieser postuliert in einem Nachlaßfragment: "Der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse." Und Zarathustra ist der Prophet des Ewigkeitserlebnisses im erfüllten Augenblick. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu den Dichtern der Moderne: Hofmannsthal und Rilke stehen ebenso in dieser Tradition wie Joyce, Proust und Musil. Ein eigenes Kapitel widmet Hillebrand Gottfried Benn und seiner nihilistischen Metaphysik. "Steigern sie ihre Augenblicke", fordert Benn und dichtet seinerseits im ekstatischen Rausch. Der Augenblick, bei Goethe noch metaphysisch behaftet, wird immer stärker irdisch und sensuell erfahrbar.

Das Rad der Zeit dreht sich weiter, die Augenblickserfahrung bleibt nach wie vor Thema der Literatur. Ob bei Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Bernhard oder Umberto Eco - der Augenblick wird intensiv erlebt und künstlerisch verwertet, doch verspricht man sich keine Erlösung mehr von ihm.

Bruno Hillebrands Buch ist ungeachtet des wissenschaftlichen Ansatzes lebendig geschrieben und gut lesbar . Allerdings hätte ich mir eine Einschätzung der Literatur des späten 20. Jahrhunderts und eine Darstellung des Umgangs moderner Autoren mit dem Augenblick gewünscht.

Titelbild

Bruno Hillebrand: Ästhetik des Augenblicks.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999.
156 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3525340117

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