"Heute will ich ein Dichter sein"

Jahrbuch der Lyrik 2001

Von Peter ReichenbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Reichenbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Konzept des Jahrbuches der Lyrik ist bekannt: jedes Jahr kommen ein Dichter - in der vorliegenden Ausgabe ist es Ludwig Harig - und der Herausgeber Christoph Buchwald zusammen und versuchen zu dokumentieren, "was in der deutschen Lyrikszene passiert". Ein ehrgeiziges Ziel und sicherlich nicht einfach zu erreichen, gerade wenn alle wichtigen deutschsprachigen Dichter berücksichtigt werden sollen. Keine Anthologie hat Anspruch auf Vollständigkeit, jede kann jedoch Tendenzen aufzeigen, kann versuchen, einen groben Überblick zu verschaffen und so, im besten Falle, zum Weiterlesen animieren.

Im Jahrbuch der Lyrik 2001 finden sich renommierte Autoren wie Peter Rühmkorf, Robert Gernhardt, Volker Braun oder Friederike Mayröcker, aber auch unbekannte Dichter, die dieser Anthologie ihre bisher bedeutendste Veröffentlichung verdanken. Dies ist in dieser Hinsicht lobenswert, mit Blick auf das Alter der Autoren jedoch schockierend und mein einziger Kritikpunkt. Der mit Abstand jüngste Dichter dieser Ausgabe ist Jahrgang ´72. Die Auswahl der Texte orientiert sich auch an den Einsendungen, doch es muss der Anspruch einer Lyrik-Anthologie sein, junge Dichter ausfindig zu machen, wenn sie Relevanz erhalten will. Naturgemäß sagt das Alter nichts über die Qualität von Gedichten aus. Aber ich möchte nicht daran glauben, dass die deutsche Lyrikszene nur aus Dichtern mit einem Durchschnittsalter von 55 Jahren besteht.

Den besten Beweis dafür, dass es auch jungen Dichtern möglich ist, gute Gedichte zu schreiben, liefert Peter Martin (Jahrgang 1972) mit seinem Gedicht "Poetischer Aufzug, oder: Heute will ich ein Dichter sein", das eines der besten dieser Anthologie ist und den Gedichten der altbekannten Autoren in nichts nachsteht.

Abgesehen vom Alter der Autoren gibt das "Jahrbuch der Lyrik" einen guten allgemeinen Überblick. Ernste politische Gedichte wie "Nach dem letzten der hiesigen Kriege" von Durs Grünbein stehen neben witzigen Gedichten von Robert Gernhardt bis hin zu lautmalerisch verspielten Texten (Franz Mons "bitte baden gehn"). So eignet sich diese Anthologie als Einstieg für jeden, der sich mit aktueller Lyrik befassen will. Es wird aber auch ein erfahrener Leser unter den rund hundert Autoren eine lohnenswerte Neuentdeckung machen können.

Glücklicherweise sehen Herausgeber und Gastdichter die vorangestellte Einschränkung "deutsche Lyrikszene" nicht zu eng. Das "Jahrbuch der Lyrik" enthält auch einige Übernahmen aus seinem amerikanischen Pendant, dem "Best of the Best American Poetry 1988-1997", herausgegeben von David Lehmann. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse 2000 wird ferner eine Reihe von polnischen Dichtern vorgestellt. Unter ihnen findet sich Marcin Swietlicki mit dem Gedicht "Polen", das mit seiner einfachen Sprache zu den kraftvollsten und überzeugendsten Gedichten dieser Anthologie zählt. Hier erfüllt die Anthologie ihren Anspruch, zum Weiterlesen anregen zu wollen, da amerikanische und polnische Dichter hierzulande wohl noch unbekannter sind als ihre deutschen Kollegen.

Bleibt zu sagen: Das Konzept ist gut, aber die Welt ist bereit für junge Dichter. Somit lautet mein Aufruf an alle jungen Dichter: Folgt der Anweisung des Jüngsten in dieser Anthologie "Heute will ich ein Dichter sein. / Darum klemm ich mir / unter den Arm eine Mappe / mit weißem Papier" und bestückt das "Jahrbuch der Lyrik 2003" mit Gedichten. Irgendwo da draußen gibt es Euch bestimmt. Einsendeschluss ist Ende August 2002. Mein Aufruf an die Herausgeber hingegen ist: Mut zur Jugend, keine Angst vor unbekannten Namen!

Titelbild

Christoph Buchwald / Ludwig Harig (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2001.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
160 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3406462294

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