Annäherungen an den Holocaust

Jan Strümpel hat über George Taboris "Erinnerungs-Spiele" gearbeitet

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Beschäftigung mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie sie durch den Holocaust im Dritten Reich verübt wurden, wird auch über fünfzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und Buchenwald noch kontrovers diskutiert. Insbesondere die theatrale bzw. literarische Umsetzung des Genozids ist spätestens seit Adornos Diktum von der "Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben", infrage gestellt; eine konsensfähige Verbindung von Holocaust und Kunst scheint bis heute nicht erreicht. Darf die Kunst versuchen, das Unsagbare, das Unvorstellbare vorstellbar zu machen? Stellt nicht jede durch die Unvorstellbarkeit des Sujets nahezu zwangsläufig unzureichende künstlerische Annäherung an Auschwitz eine Negierung der Singularität des Holocaust und somit eine unzulässige Verspottung der Opfer dar? Oder verhält es sich etwa so, wie der spanische Schriftsteller Jorge Semprún es einmal formuliert hat: "Man kann [...] immer alles sagen. Das Unsagbare, mit dem man uns ständig in den Ohren liegen wird, ist nur ein Alibi. Oder ein Zeichen von Faulheit."

Wie wohl kaum ein anderer hat sich der Dramatiker und Schriftsteller George Tabori jener Fragen nach der Legitimität der Erinnerung an die Verbrechen des Dritten Reiches angenommen und sich um die literarische Auseinandersetzung mit dem Holocaust verdient gemacht. Tabori wurde in Ungarn geboren, überlebte das Dritte Reich, emigrierte nach London. Sein Vater starb im KZ, die Mutter hingegen überlebte den Genozid. Seit den fünfziger Jahren arbeitet Tabori an Formen der Darstellung des Holocaust; in Stücken wie "Die Kannibalen", "Mutters Courage" oder "Mein Kampf" thematisiert er den Prozess des Erinnerns auf eine ungewohnte, da gleichsam anarchisch komische und somit enttabuisierte Art und Weise. Tabori überspitzt, pointiert, entlarvt Täter wie Opfer, stellt beide Gruppen bloß, verrückt die zuvor klar definierte Relation von Subjekt und Objekt. Ein Grundimpuls für Taboris Werk, so hat es Peter von Becker formuliert, sei das Lachen bzw. die Liebe - Tabori ist überzeugt davon, dass der Einfühlungs- und Verstehensprozess des Holocaust, soweit möglich, neben der rein historischen auch eine affektive Dimension benötigt.

Der Literaturwissenschaftler Jan Strümpel, der sich schon seit längerem mit dem Werk George Taboris beschäftigt, hat nun seine Doktorarbeit über Taboris "Erinnerungs-Spiele" veröffentlicht, in der er der Frage der Erinnerbarkeit des Holocaust nachgeht. Strümpel untersucht die sechs bekanntesten Theaterstücke Taboris und zeigt Arbeitstechniken des Dramatikers auf, mit denen es diesem gelingt, die Erinnerung und Vergegenwärtigung des Holocaust spielerisch auf die Bühne zu bringen.

In einem ersten Teil seiner Abhandlung "Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele" gibt Strümpel eine allgemein theoretische Einführung in die Problematik Literatur und Holocaust bzw. Holocaust und Drama. Ihm gelingt dieses schwierige Unterfangen, indem er gerade die Heterogenität der vermeintlich so homogenen "Holocaust-Literatur" verdeutlicht. Darüber hinaus präsentiert Strümpel in diesem ersten Teil einen Überblick über die Diskussion nach der Legitimität der "Kunst nach Auschwitz" und ordnet Stücke wie Hochhuths "Stellvertreter" oder Weiss' "Die Ermittlung" in diesen literatur- und rezeptionsgeschichtlichen Kontext ein. Somit gibt der Literaturwissenschaftler einen Überblick über fünfzig Jahre literarischer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen.

In einem zweiten Schritt arbeitet Strümpel sehr präzise die Schwierigkeit der künstlerischen Beschäftigung mit dem Holocaust heraus. Die traditionellen Formen theatraler Annäherung an den Genozid, so eine der Hauptthesen Strümpels, müssten "als suspendiert gelten, wenn es um die Vergegenwärtigung dieser historisch singulären Menschheitskatastrophe geht". Strümpel spitzt diese Aussage im Folgenden nochmals zu: "Alle Darstellungen, ob sie der Aufarbeitung, 'Bewältigung' oder der Revision gelten, reduzieren oder transzendieren ihren Gegenstand oder entstellen ihn gar vollends." George Tabori hingegen, so Strümpel, sei es gelungen, in seinen Stücken "Fragen der Autorenschaft, der Authentizität und Legitimität ästhetischer Mittel intensiv [zu reflektieren]" und so den Gegenstand nicht zu entstellen - indem Taboris Spiel nicht das "Ziel von Verständigungsarbeit, sondern gewissermaßen ihre Diskussionsgrundlage [sei], reflektiere Tabori über die Implikationen des Spiels." Tabori setze laut Strümpel dem "Pathos des Primären" ein "Ethos des Sekundären" entgegen. Das Fiktionale, so resümiert Strümpel, habe sich in der Holocaust-Literatur auch und gerade durch George Tabori als notwendig für eine Reflexion des Grauens erwiesen. Tabori habe den bis dato vorherrschenden Stücken in der reinen Täter-Perspektive neuartige Inszenierungen aus der Opfer-Perspektive gegenübergestellt.

Diese These beschreibt in der Tat eine der großen Leistungen George Taboris für die Holocaust-Literatur: Tabori entmythologisiert, "entzaubert" die Opfer der Vernichtungslager und macht sie somit vom Objekt der Grausamkeit zum Subjekt inmitten der Grausamkeit. Er zeigt die Problematik des Erinnerns an das Grauen auf; er verdeutlicht in einem Stück wie "Die Kannibalen", in dem die Insassen einer Baracke einen Mithäftling töten und vor Hunger verspeisen, dass eine Annäherung der Generation der Söhne an die der Väter in den KZs schwierig und kaum leistbar ist, wenn in die Erinnerungsarbeit nicht auch die Gewaltbereitschaft und damit gleichsam die banale Menschlichkeit der Opfer einbezogen wird. Tabori, so Strümpel, habe in der ethisch schwierigen Frage nach der Darstellung des Holocaust mit seinen Stücken, die den Zuschauer nicht nur beklemmen, sondern ihn auch lachen lassen über Absurditäten und Banalitäten, in vielen Fällen einen Tabubruch vollzogen, der jedoch durch die Vita des Autors legitimiert sei.

Im zweiten Teil seines Buches analysiert Strümpel sechs der bekanntesten Theaterstücke Taboris, um dessen "Erinnerungstechnik" zu belegen, die der Autor im theoretischen Teil des Buches als "Ethos des Sekundären" bezeichnet. Er arbeitet heraus, dass Taboris Figuren Verständigungsarbeit betreiben; Verständigungsarbeit aus dem Bedürfnis heraus, ihr verlorenes Selbstverständnis wiederzufinden. Die Erinnerungsarbeit wird in Taboris Stücken durch das Spiel geleistet, durch den Dialog der Figuren, die über den Holocaust reflektieren, um sich zu erinnern. Die ambivalenten Figuren in "Die Kannibalen", die zugleich Väter und Söhne, zu gleichen Teilen Opfer der Nazis wie Nachkommen auf der Suche nach ihren Vätern und deren Erfahrungen in den Baracken sind, erlauben dem Zuschauer durch ihr Handeln, durch ihre Dialoge, durch ihr "Spiel" eine Annäherung an den Holocaust in seiner bösen Banalität. In "Mutters Courage", so stellt Strümpel dar, erfolgt die Erinnerungsarbeit durch das erzählerische Zwiegespräch einer Mutter, die dem KZ entrinnen konnte, mit ihrem Sohn. In "Mein Kampf" trifft der junge Adolf Hitler in einem Männerwohnheim in der Wiener Blutgasse den jüdischen Buchhändler Schlomo Herzl; Hitler beklagt sich beim Juden Herzl, er werde von niemandem geliebt, worauf Herzl beteuert: "In diesem Augenblick, wenn du da sitzt mit nassen Augen, liebe ich dich." Strümpel macht sehr plausibel deutlich, wie Tabori auch in diesem Stück mit dem Witz arbeitet: "Der Leser/Zuschauer lacht über eine groteske Figur, in die er aber sein Wissen projiziert, das er von der historischen Person und seiner verhängnisvollen Rolle hat." Indem Tabori Realität mit Fiktionalem mischt und Komik hineinarbeitet, so ist Strümpel zu Recht überzeugt, erreicht er spielerisch eine Vergegenwärtigung des Schreckens und sagt das Unsagbare.

Jan Strümpels Textanalysen überzeugen. Die besondere Stärke des Buches liegt in der Abbildung nicht nur eines bedeutsamen Teiles des Taborischen Werkes und in der gleichzeitigen Auffächerung und Darstellung der Problematik von Holocaust und Literatur. Strümpel stellt seine Beschäftigung mit den Werken George Taboris nicht in einen leeren Raum, sondern verschafft dem Leser zuvor einen Überblick über den historischen wie gegenwärtigen Stand der kunsttheoretischen Debatte. Er trägt mit dazu bei, dass George Taboris so wichtige Stücke über den Holocaust, die immer noch nicht Schullektüre sind, angemessen gewürdigt werden. Schon bald werden die letzten Augenzeugen des Genozids der Nazis gestorben und die direkte, autobiographische Erinnerungsfähigkeit nicht mehr gegeben sein. Umso wichtiger ist es, dass Autoren wie George Tabori Formen des Erinnerns entwickeln, die auf unkonventionelle Art und Weise ein kollektives Gedächtnis jener Gräueltaten garantieren. Denn wenn etwas vor einer Wiederholung des Holocaust bewahrt, dann nur das Wissen und die Erinnerung.

Titelbild

George Tabori: Theaterstücke 2.
Carl Hanser Verlag, München 1994.
370 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3446177361

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

George Tabori: Theaterstücke 1.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
320 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3596123011

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jan Strümpel: Vorstellungen vom Holocaust. Georg Taboris Erinnerungsspiele.
Wallstein Verlag, Göttingen 2000.
208 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 3892443580

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