Nicht Drehbuch, nicht Roman

Die literarischen Spielereien des Peter Carey

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn der Leser zusammen mit Jack Maggs das London des Jahres 1837 und damit den neuen Roman von Peter Carey betritt, kann er sich zuerst einmal nicht sicher sein, ob er es mit einem Roman oder einem Drehbuch zu tun hat. Zumindest wirkt es so, als wolle der Roman eigentlich viel lieber ein Drehbuch sein: Da wird eine Gestalt im Schein einer Öllampe sichtbar, und obwohl der Erzähler die Gedanken der Umstehenden mühelos lesen kann, kann er nicht sagen, ob Jack sich aus Rührung oder wegen des Rußes die Nase putzt. Hier blickt der Autor bereits durch das Auge der Kamera, der Zwischenschritt des Erzählens wird der Einfachheit halber gleich übersprungen.

Jack Maggs jedenfalls hätte guten Grund, Rührung zu empfinden, schließlich ist er nach langen und harten Jahren illegal aus der australischen Verbannung zurückgekehrt. Bei einer Entdeckung droht ihm der Galgen, aber das kann ihn nicht schrecken, denn er ist auf der Suche nach Henry Phipps, der für ihn wie ein Sohn ist. Mit seinem in Australien erarbeiteten Reichtum hat er aus dem Waisen Henry einen Gentleman gemacht, jetzt möchte er ihn endlich wiedersehen. Doch Henry ist über die drohende Begegnung mit dem Sträfling alles andere als begeistert und versteckt sich.

Soweit die anrührende Familiengeschichte, die jedoch erst nach einigen hundert Seiten ganz aufgedeckt wird. Im geheimen Zentrum des Buches aber steht eine andere Person, der Schriftsteller Tobias Oates, und damit ein literarisches Spiel. Denn Oates ist unschwer zu erkennen als eine fiktionalisierte Version von Charles Dickens, und mit diesem Hinweis lassen sich auch zahlreiche Parallelen zu dessen Romanen erkennen, vor allem zu "Große Erwartungen" und "Oliver Twist". Die Anspielungen reichen von Namen über Episoden bis zur Erzählweise. So heißt der entflohene Sträfling in "Große Erwartungen" Magwitch, der kleine Junge aber, der ihm bei der Flucht hilft und dessen Wohltäter er später werden wird, heißt Pip. Doch genau diese Szene ist es, die in der Widerspiegelung durch Carey nicht funktionieren will, obwohl sie doch der Aufhänger ist, an dem im wahrsten Sinne des Wortes das ganze Romangeschehen hängt. Aber die Geschichte um die etwa dreiminütige Begegnung des Sträflings Jack Maggs mit dem vierjährigen Waisenkind Henry Phipps auf dem Weg in die Verbannung und Jacks darauf folgende lebenslange emotionale Bindung an den Jungen vermag weder zu überzeugen, noch gar zu rühren. Hier fällt der Roman in Stücke, keine der Handlungen und Episoden findet mehr eine Rechtfertigung, außer dem Bezug auf das Werk des berühmten Engländers.

Charles Dickens wird immer wieder für seine Charakterisierungen extravaganter Gestalten gelobt, die von einer ungewöhnlichen Lebendigkeit zeugten. Nun hat E. M. Forster einmal gesagt, einen runden Charakter in einer Erzählung erkenne man daran, dass er uns auf überzeugende Weise überrascht. Die Figuren in Peter Careys Roman überraschen uns wohl, allen voran der titelgebende Protagonist, allein vermag es keine dieser Überraschungen, uns zu überzeugen. Statt eines lebendigen Charakters starrt uns immer nur die Absicht des Autors an, eine bestimmte Aussage zu machen. Jack, der rohe und gewalttätige Sträfling, verwandelt sich mit einem Satz in den zartfühlenden und verletzlichen Pflegevater und wieder zurück. Und das immer wieder.

Im englischsprachigen Raum, wo die Romane von Dickens ganz selbstverständlich zu jedermanns Kulturgut gehören, garantiert das literarisch-gebildete Spiel sicherlich einen unterhaltsamen Lesespaß, bei dem man sich auch noch die eigene Bildung beweisen kann. Den Leser in Australien wird speziell die postkolonialistische Emphase aus dem Herzen sprechen, die Carey auf den letzten Seiten des umfangreichen Romans noch schnell aus dem Hut zaubert. Dem deutschen Leser muss sich der Roman jedoch vor allem als eigenständiger Roman beweisen, und da werden die erzählerischen Schwächen deutlicher offenbar. Peter Carey hätte gleich ein Drehbuch schreiben sollen, da hätte er seine Charaktere nicht erklären müssen, die Filmoptik wäre am rechten Platz gewesen, und die entscheidende Begegnung zwischen Sträfling und Kind hätte, bei einer entsprechenden Besetzung, zu einem anrührend-kitschigen Moment werden können. So ist es nur ein Text geworden, der als Text nicht funktioniert.

Titelbild

Peter Carey: Die geheimen Machenschaften des Jack Maggs. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Regina Rawlinson.
Krüger Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
416 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3810503592

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch