Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland und England

Eine Analyse autobiographischer Werke von deutschen, deutsch-jüdischen und britischen Autoren

Von Anthony GrenvilleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anthony Grenville

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gillian Lathey hat sich bekannt gemacht durch ihre Forschungen auf dem Gebiet der Lesegewohnheiten und -erlebnisse deutschsprachiger, meist jüdischer Kinder, die nach 1933 nach Großbritannien geflohen sind. In einem bemerkenswerten Artikel, "From Emil to Alice: The Hiatus in the Childhood Reading of Exiles from Germany and Austria, 1933 - 45", der im "Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies" 2 (2000) erschienen ist, hat die britische Germanistin den Prozess der kulturellen Umstellung auf eine völlig neue literarische Tradition, den diese Kinder durchmachen mussten, einsichtig analysiert.

In ihrem Buch unternimmt Lathey eine vergleichende Untersuchung von autobiographischen Werken, in denen deutsche und britische Autoren sowie deutsch-jüdische Autoren im Exil versuchen, sich mit ihren Erlebnissen in den Jahren des Weltkrieges und der Nazi-Herrschaft auseinander zu setzen. Sie bedient sich sowohl differenzierter psychoanalytischer Muster (Freud, Jung und vor allem Lacan), als auch einer weit greifenden Theorie der Autobiographie sowie der empirisch-textimmanenten Interpretation auf altbewährte angelsächsische Weise. Daraus ergibt sich eine schlüssige Erklärung der literarischen Darstellungen schwerer traumatischer Kindheitserlebnisse, im Krieg, in den Nachkriegswirren und vor allem in der Verfolgung, Ausstoßung und Vertreibung aus der Heimat und der vertrauten Sicherheit, die jüdische Kinder im Dritten Reich erlitten.

Die Werke der deutsch-jüdischen Autoren werden sozusagen von denen der deutschen und britischen Autoren flankiert, da sie sich zwischen deren Kulturwelten bewegen. Judith Kerr, Tochter des ,Kritikerpapstes' Alfred Kerr, 1933 aus Deutschland geflohen, wurde in England berühmt durch ihre markant überschriebenen autobiographischen Bände "When Hitler Stole Pink Rabbit" (1971), "The Other Way Round" (1975) und den das Exil der ganz kleinen Kinder schon im Titel zusammenfassenden Band "A Small Person Far Away" (1978). Charles Hannam, Sohn eines wohlhabenden orthodoxen Bankiers, mit einem Kindertransport mutterseelenallein nach England gekommen, stellt in "A Boy in Your Situation" (1977) und "Almost an Englishman" (1979) seine Absage an seine jüdische Vergangenheit und seine Annahme einer neuen, (fast) englischen Identität dar.

Lathey erkennt deutlich die didaktische Absicht der Autoren, die ihre einmaligen Erlebnisse an die nächste Generation weitergeben wollen, um jede Wiederholung der rassistischen Verfolgung, der nationalsozialistischen Diktatur und des verheerenden Weltkrieges zu verhindern. Vorrangig handelt es sich in diesen Werken aber um zweierlei: um einen therapeutischen Prozess und um die Konstruktion der Identität. Bei den deutsch-jüdischen Autoren zeigt Lathey, wie sie sich mit dem traumatischen Schock der Ausstoßung aus der deutschen Gesellschaft, der Flucht aus der Heimat sowie des Exillebens in einem fremden Lande auseinander setzen. Indem Judith Kerr ihre lange verdrängten Erinnerungen im autobiographischen Text wieder aufleben lässt, wiederholt sie den Versuch des Kindes, die völlig unverständliche Welt des jäh ausbrechenden Antisemitismus und der Bedrohung der vertrauten Sicherheit zu verstehen und einigermaßen zu bewältigen. Eben weil dieser therapeutische Prozess der Heilung durch den Akt des autobiographischen Schreibens erst Jahrzehnte später erfolgen kann, beschränkt sich Latheys Untersuchung auf Werke, die zwischen 1970 und 1995 erschienen sind.

Dazu kommen noch die uneingestandenen Schuldgefühle. Charles Hannam fühlt sich nicht nur als Überlebender des Holocaust schuldig, sondern auch, weil er das Erbe des Judentums verworfen hatte, um sich eine neue Identität als Engländer zu konstruieren: In einem vornehmen Internat und dann in der Royal Air Force entwickelte er sich zum Mitglied einer neuen Gemeinschaft, die ihm die Familie ersetzte. Dieser Übergang zur neuen Identität vollzieht sich vorrangig im Bereich der Sprache, wie auch die Ausgrenzung aus Deutschland sich mit dem Verlust der deutschen Muttersprache vollzogen hatte. Hier stützt sich Lathey auf die Analyse Lacans, der die Konstruktion einer stabilen Identität als gesellschaftlich-sprachlich bedingt sieht. Da nach Lacan die Sprache den Kern der Identität bildet, ist die sprachliche Enteignung dieser jüdischen Kinder durch die Nazis ein Trauma, das durch die Erlernung einer neuen Sprache nicht geheilt werden, aber das später durch die Sprache, in der Form der Autobiographie, doch heilend zum Ausdruck gelangen kann.

Die traumatischen Erlebnisse der deutschen Autoren fanden meistens erst nach Kriegsende statt, als diese noch sehr jungen Leute mit der Zerstörung Deutschlands und vor allem mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes konfrontiert wurden. Es handelt sich also in Werken wie Gudrun Pausewangs "Rosinka"-Trilogie um die moralische Zertrümmerung des deutschen Nationalbewusstseins, um ein Trauma, das nicht individuell, sondern historisch, als kollektiver Verlust der sicheren nationalen Identität, erlebt wurde. Die unschuldige Kindheit, in der Führer, Volk und Staat noch leichtgläubig vergöttert wurden, wird von der Perspektive der ungeheuren Schuld des Holocaust schmerzhaft revidiert, ein besonders schwieriger Prozess bei Autoren wie Pausewang, deren Familie aus der Tschechoslowakei vertrieben wurde, und die der Versuchung, sich als Opfer zu profilieren, widerstehen musste.

Diese nationale Selbstkritik fehlt fast gänzlich in den britischen Autobiographien, da die Briten ihren Krieg als einen gerechten Krieg empfinden, in dem das britische Volk 1940/41 allein der Übermacht der nazistischen Kriegsmaschine standgehalten hat. Daraus ergibt sich ein Gefühl der moralischen Überlegenheit, die mit mythisierten Erinnerungen an eine nie wieder erlebte nationale Solidarität und Einigkeit einhergeht und leicht zur sentimentalen Kriegsnostalgie ausarten kann. Diese letzten Endes positive Einstellung zum Krieg bietet Lathey nur wenig Spielraum, um Vergleiche zwischen den Erinnerungen britischer und denjenigen deutscher bzw. deutsch-jüdischer Kinder anzustellen. Hier herrscht eher, wie in den Spionageromanen John le Carrés, das Trauma der allmählich verblassten Großmachtstellung und des verloren gegangenen nationalen Selbstwertgefühls. Die Analyse Latheys ist jedoch überaus zu empfehlen.

Titelbild

Gillian Lathey: The Impossible Legacy. Identity and Purpose in Autobiographical Children's Literature Set in the Third Reich and the Second World War.
Peter Lang Verlag, Bern 1999.
258 Seiten, 37,30 EUR.
ISBN-10: 3906760804

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