Filmexil

Zwei Neuerscheinungen zum "film noir" und über Schauspieler im Exil

Von Jan-Christopher HorakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Christopher Horak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit den 70er Jahren gibt es in der angloamerikanischen Filmwissenschaft eine ständig wachsende Literatur zum amerikanischen film noir. Angespornt wurde das wissenschaftliche Interesse einerseits durch filmsemiotische Fragen zum Genrebegriff, andererseits durch den psychoanalytischen Flügel der feministischen Filmwissenschaft. Die beiden methodologischen Ansätze sind durch frühe Veröffentlichungen, wie die "Film-Comment" Spezialnummer zum "film noir" (1974) und "Woman in Film Noir", herausgegeben von E. Ann Kaplan (1978), wegweisend repräsentiert. Ebenso wie in der ersten französischen Studie zum film noir, Raymond Bordes und Étienne Chaumetons "Panorama du film noir américaine (1941-1953)" (1955), kursiert in der englischsprachigen Literatur die These, der amerikanische film noir sei stilistisch dem klassischen deutschen Stummfilm der 20er Jahre verwandt, nicht zuletzt weil es sowohl formale Gemeinsamkeiten als auch personelle Verbindungen über das Exil deutschsprachiger Filmemacher in Hollywood gegeben hatte. Doch erst durch die Veröffentlichung der Untersuchung von Barbara Steinbauer-Grötsch "Die lange Nacht der Schatten" im Jahre 1996 wurden diese vielschichtigen Vermutungen wissenschaftlich überprüft und als gültige Thesen bestätigt. Frau Steinbauer-Grötsch zeigt in drei Teilkapiteln die thematischen, narrativen und visuellen Verknüpfungen zwischen dem deutschen Film vor 1933 und dem Hollywood film noir der 40er und frühen 50er Jahre, die zweifelsohne bestanden. Damit leistet sie nicht nur einen Beitrag im deutschsprachigen Raum zur Einordnung des film noir, sondern auch zur Ermessung des Einflusses des deutschen Exils in der amerikanischen Filmmetropole und Filmwirtschaft.

Die Autorin beginnt ihr Kapitel "Caligaris Schatten" mit einer Darstellung des allgegenwärtigen Doppelgängers im expressionistischen Stummfilm und im film noir und der verschiedenen Formen, die dieses doppelte Bild annehmen kann - ob Porträt, Photo oder Spiegel - und bringt das Motiv in Verbindung mit Themen wie der Spaltung des Bewusstseins, der Subjektivierung des Blickes und der Psychose der Moderne. Wie in den folgenden Teilkapiteln nennt Steinbauer-Grötsch eine Vielzahl von Filmbeispielen als Beweis, um ihre Thesen zu belegen. Im zweiten Teilkapitel geht es um charakteristische Erzählstrukturen im film noir, die zum Teil vom deutschen Film hergeleitet werden können: voice over-Erzähler, Rückblenden, das Ineinanderschieben von Ebenen des Traums und der Realität, die Verwendung von Rahmenhandlungen, die Zersetzung der klassischen Hollywood-decoupage. Im dritten Teil geht die Autorin auf den visuellen Stil des film noir ein, dabei eine Linie von Chiarascuro, wie es Lotte Eisner nannte, im expressionistischen Film bis hin zum extremen Helldunkel des amerikanischen film noir ziehend. Auch die "subjektiv-bewegte" Kamera, extreme Großaufnahmen und Blickwinkel werden als gemeinsame stilistische Merkmale beider Epochen definiert. Sowohl die vielen erwähnten und analysierten Filme als auch die Bestätigung der hohen Beteiligung exilierter deutscher Filmschaffender am film noir - es werden 75 von 300 noirs konkret so identifiziert -, lassen den Einfluss des deutschen Kinos auf dieses amerikanische Genre außer Zweifel.

Mit der Veröffentlichung der zweiten, überarbeiteten Auflage scheint es mir aber angebracht, auf die Schwächen dieser Monographie einzugehen, die zwar die oben genannte wissenschaftliche Leistung nicht schmälern, aber zu erheblichen Irritationen beim kundigen Leser führen können. Vor allem die ungenaue Begrifflichkeit, mit der Steinbauer-Grötsch operiert, führt zu Übertreibungen, die das Endergebnis nicht ändern, aber den Weg dorthin erschweren. So z. B. übernimmt die Autorin aus der fremdsprachigen Literatur zum film noir verschiedene, undifferenzierte Termini, um die deutsche Filmtradition zu beschreiben, ohne sich selbst auf ein Nomen festzulegen. Da liest man vom expressionistischen Film, vom klassischen, deutschen Stummfilm,vom deutschen Kino der frühen zwanziger Jahre, Filmschaffenden im Umkreis der Ufa, vom deutschen Stummfilm oder dem deutschen Kino der 20er und 30er Jahre. Aus dieser Wortwahl ist aber nicht zu erkennen, dass es nicht um das populäre Genrekino der Weimarer Republik geht, das weder die stilistische Homogenität noch die Thematik mit dem populären Genre des film noir gemein hatte, sondern um den gehobenen künstlerischen Film deutscher Prägung.

Der Begriff film noir bleibt ebenfalls schwierig. Steinbauer-Grötsch zählt zwar viele verschiedene Definitionen von film noir als Genre auf, will aber den Gegenstand nur als zeitspezifische "Bewegung" verstehen, um die Exilanten ins Zentrum zu stellen. Doch wenn man den film noir zeitlich so eingrenzt (wo bleibt da der film noir der 70er und 90er Jahre?) oder personell auf das deutsche Exil reduziert, unterschätzt man auf unzulässige Weise den Einfluss der amerikanischen literarischen und filmischen Traditionen. Dass die deutschen Exilanten in Hollywood überhaupt einen so großen Einfluss auf das amerikanische Kino haben konnten - vergleichbar nur mit ihrem Wirken im Anti-Nazifilm -, hätte der Autorin genügen müssen.

Auch die Definition der exilierten Filmemacher wird künstlich erweitert, um alle Europäer in Hollywood mit einzubeziehen. Dies wird vor allem im Anhang deutlich, worin amerikanische Filmschaffende wie Josef von Sternberg (1909 emigriert), Charles Vidor (1924 aus Ungarn gekommen), Otto Lang, Ernest Laszlo (1926 aus Jugoslawien), Constantin und Misha Bakaleinikoff (aus Russland), Max Steiner (1914 emigriert), Dimitri Tiomkin (1925 aus Russland) und Alexander Golitzen (1923 aus Russland), sowie die Schauspieler Brandon (1914 emigriert), Francen (1939 aus Frankreich), Guttmann (1929 aus Polen/nicht mit Dantine identisch), Lukas (1927 aus Ungarn), Rowland (aus Nebraska), Stroheim (1906 emigriert), Tamiroff (1923 aus Russland) und Van Zandt (1927 aus Holland) zum deutschen Exil gezählt werden, obwohl es in nur zwei Fällen Berührungspunkte mit dem deutschen Film gab. Wenn die Autorin ihre Definition schon dahin gehend erweitert, dass deutschsprachige und osteuropäische Immigranten dazugezählt werden, die "in Deutschland ihre Laufbahn begonnen" haben, dann hätten Namen wie Henry Blanke und William Wyler nicht fehlen dürfen. Dabei fehlen echte Exilanten, wie I. G. Goldschmidt und Gustav Machety ebenso wie einige von Exilanten gedrehte film noirs, wie z. B. "Jealousy" (Machety, 1945) und "Alimony" (Zeisler, 1949). In diesem Zusammenhang muss auch das Kapitel "Filmexil in Hollywood" als kaum mehr als eine Aneinanderreihung von biographischen Anekdoten zu einer Hand voll Filmexilanten bewertet werden, die weder das Filmexil in Hollywood noch den film noir erhellt.

In Unkenntnis des filmhistorischen Umfeldes greift die Autorin wiederholt zu hoch, um den Einfluss des Exils auf Hollywood zu belegen: "Das alles dominierende Chiaroscuro der deutschen Kinoleinwand der 20er Jahre blieb bis zur Entstehung des film noir in der Filmgeschichte ohne Nachahmung." Dabei hatten schon in den 20er Jahren amerikanische Regisseure, wie etwa William K. Howard und Robert Florey, den klassischen "deutschen" Stil rezipiert und nachgeahmt. Sowohl der amerikanische Horrorfilm der 30er und 40er Jahre (vor allem bei Universal) als auch der französische Melo der 30er Jahre stehen stilistisch und personell dem deutschen (Exil-Film) nahe. Bestimmte französische Filme wie "Mauvaise Graine" (1934), "Carrefour" (1936) und "Quai De Brumes" (1938) können als unmittelbare Vorläufer des film noir gelten.

Andere aus der Sekundärliteratur übernommene Aussagen scheinen verkürzt. So kann die Autorin als Grund für das Verschwinden des film noir lediglich das Ableben des sogenannten B-Films angeben. Ob der B-Film tatsächlich nach 1950 aus den Kinos verschwindet, ist zweifelhaft, denn das "double bill" lebte in Drive-ins und Vorstadtkinos bis mindestens Mitte der 60er Jahre, und Roger Corman, Jack Arnold et al. drehten erst in den 50er Jahren ihre B-Filme. Dafür waren möglicherweise gesellschaftliche Gründe verantwortlich, wie der politische Rechtsruck im Zuge des Kalten Krieges in Amerika (der jegliche gesellschaftliche Kritik im Film stark behinderte) oder die Einführung des Berufsverbots für angebliche Kommunisten in der Filmwirtschaft (ca. 40 der von Steinbauer-Grötsch identifizierten Filme wurden von "blacklisted" Drehbuchautoren und Regisseuren gedreht). Auch die Tatsache, dass Exilanten wie Fritz Lang, William Dieterle und Robert Siodmak zeitweilig auf die schwarzen Listen Hollywoods kamen, bleibt in diesem Zusammenhang unerwähnt.

Zum Schluss scheint es doch mindestens kurios, dass Steinbauer-Grötsch überhaupt nicht auf die feministische Literatur zum film noir eingeht. Es wäre zumindest interessant gewesen, den deutschen Film der 20er Jahre auf die typischen Frauenfiguren des film noir, wie z. B. die femme fatale, hin rückschauend abzuklopfen. Die unterkühlte Brigitte Helm in "Metropolis" und "Alraune" wäre sicherlich eine ausgezeichnete Kandidatin für einen solchen Vergleich mit der selbstsüchtigen noir-Frau gewesen.

Welche wissenschaftlichen Höhen die deutsche Exilforschung in den letzten Jahren erreicht hat, wird am neuesten Heft der Zeitschrift "Filmexil" (Nr. 12) schlagend bewiesen. Das Thema "Schauspieler im Exil" ist der Schwerpunkt; dazu vier Beiträge zu Albert und Else Bassermann, Alexander Granach und Max Hansen, die alle neue Erkenntnisse, nicht nur zu den Biographien der genannten Personen, sondern auch zur Exilforschung allgemein bringen. Die Beiträge von Heike Klapdor und Gerlinde Waz zu den Bassermanns stützen sich auf die im Paul Kohner Archiv des Filmmuseums Berlin-Deutsche Kinemathek vorhandenen Akten und führen vor, wie wenig Bassermann und seine Frau sich im Hollywood-Exil anzupassen vermochten, trotz einer beachtlichen Zahl von Filmcredits.

Der Beitrag von Günther Agde zu Granach dagegen erschließt neue, erst kürzlich aus der ehemaligen Sowjetunion zugängliche Quellen, um die bisher stark unterbelichtete Karriere Granachs in Moskau zur Zeit der stalinistischen Säuberungen darzustellen. In welche Gefahr Granach geriet und wie knapp er einem namenlosen Grab - gleich Carola Neher - entkommen ist, war aus der bisherigen Literatur zu Granach nicht bekannt.

Auch der Essay von Knud Wolffram zu Max Hansen wirft neues Licht auf den Schauspieler, der bisher als Paradebeispiel für die Hetze der Nationalsozialisten gegen jüdische Schauspieler gegolten hatte. Wie Wolffram zeigt, versuchte Hansen noch bis in die 40er Jahre hinein, seinen Status als "Jude" durch ein Verfahren in der Reichsstelle für Sippenforschung zu ändern, indem er den in der Geburtsurkunde genannten Vater gegen einen heimlichen "arischen" Vater austauschte. Als Hansen schließlich der gewünschte Ariernachweis im Jahre 1941 zuerkannt wurde und im September 1942 sogar Goebbels seiner Beschäftigung im deutschen Film nicht mehr im Wege stand, hätte Hansen wieder ins Dritte Reich zurückkehren können. Doch es kam nicht mehr dazu, da Hansen sich nach Schweden abgesetzt hatte.

Was allen Beiträgen im Heft gemein ist, ist das Bemühen, die bisherigen Annahmen zu den verschiedenen Schauspielern zu revidieren, um ein differenzierteres Bild des deutschen Exils zu entwerfen. Eine bescheidene, aber ordentliche Leistung.

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Barbara Steinbauer-Grötsch: Die lange Nacht der Schatten. Film noir und Filmexil.
Dieter Bertz Verlag, Berlin 2000.
256 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 392947011X

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Titelbild

Filmmuseum Berlin - Deutsche Kinemathek (Hg.): FilmExil. Heft 12. Schauspieler im Exil.
edition text & kritik, München 2000.
60 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3883776564

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