Flucht in aller Herren Länder

Das Exil der Familie Kahn & Engelmann

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Kahn & Engelmann" heißt der Roman, nicht "Tadellöser & Wolff", aber eine Familiengeschichte ist es auch, die ebenso gut und humorvoll erzählt ist wie Kempowskis Roman. Aber doch ganz anders. Denn es geht nicht um eine deutsche Familie aus Rostock, sondern um eine jüdische Familie aus Ungarn, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Plattensee zu Fuß nach Wien zieht, wo sie sich erheblich vergrößert und nach mehreren Anläufen zunächst in der Damenbekleidung reüssiert: Kahn & Engelmann heißt das Geschäft. Der gleichnamige Roman schildert die Höhen und Tiefen dieser Doppelfamilie und skizziert ganz nebenbei ein Kapitel Kulturgeschichte des vernichteten jüdischen Wien. Es sind zunächst dieselben Schicksale, von denen jüdische und arische Familien heimgesucht werden: Armut, Not, Pubertät, heimliche Liebschaften, fortgesetzter Ehebruch - sogar ein Freitod. Der Vater des Erzählers stürzt sich vor Gram über den Betrug seines Schwagers in die Donau.

Der Mann, der von den heiteren und tragischen Ereignissen berichtet, gehört zur dritten Generation der Familie, und die besteht zumeist aus etwas komplizierten Intellektuellen, die sich für Frauen, Schach und Literatur interessieren. Und so ist der Roman erzählt. Der Chronist lässt sich von den Schicksalen seiner weit verzweigten Familie nicht erdrücken, er arrangiert: Er zeigt die Fotos, verteilt die Auftritte, knüpft die Fäden, erinnert und vergisst, mischt Heiteres und Trauriges.

Bis da nichts mehr zu mischen ist. Dass von einer jüdischen Familie aus Wien in den dreißiger Jahren anderes zu berichten ist als von einer deutschen aus Rostock, hat nicht der Erzähler zu verantworten, sondern Hitler und seine Anhänger, die es bekanntlich auch in Wien gab... Der Familie Kahn & Engelmann gelingt die Flucht in aller Herren Länder, ihre Nachkommen leben in Kalifornien und Israel und erinnern sich gelegentlich. Der ungarische Zweig der Familie wurde umgebracht.

"Kahn & Engelmann" ist ein lebendig und liebevoll erzähltes Buch - nicht der bedeutendste, aber einer der schönsten Romane, die ich in diesem Jahr gelesen habe.

Titelbild

Hans Eichner: Kahn & Engelmann. Eine Familiensaga.
Picus Verlag, Wien 2000.
367 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3854524374

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