Promotion mit 56jähriger Verspätung
Nina Rubinstein und die wechselvolle Geschichte ihrer Dissertation über die französische Emigration nach 1789
Von Hiltrud Häntzschel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVielschichtiger, polyvalenter und bewegender kann das Thema "Emigration" kaum in einer einzigen Publikation vereint sein.
Da ist erstens die Autorin: 1908 in Berlin geboren, Kind lettischer Emigranten jüdischer Herkunft und Sozialdemokraten, genauer, russischer Menschewiken, und bald schon ein Kind des Exils, im Ersten Weltkrieg Kopenhagen, nach 1917 Petrograd, dann wieder Berlin, Studium der Soziologie in Heidelberg, Frankfurt und Paris. 1933 reicht sie die Dissertation ein, aber das Unheil ist schneller: Karl Mannheim, der Doktorvater, wird aus der Universität geworfen, muss emigrieren, auch die Doktorandin. Ein erster Versuch, die Promotion nachzuholen im Pariser Exil an der Sorbonne, scheitert am Zwang, den Lebensunterhalt zu verdienen, dann vertreibt sie die Deutsche Wehrmacht ins zweite Exil, nach New York. Ein neuerlicher Versuch an der New School for Social Research ist ebenfalls zum Scheitern verurteilt, der Krieg dauert zu lange, Nina Rubinstein muss Geld verdienen als Simultanübersetzerin für Deutsch-Englisch, später Englisch/Französisch-Russisch. Das tut sie bis zu ihrem Ruhestand 1968 bei den Vereinten Nationen.
Und das Thema dieser Dissertation? "Die Französische Emigration nach 1789". Zeitweilig sollte das Buch "Ein Beitrag zur Soziologie des Fremden" heißen. Mit dieser Arbeit wurde das Phänomen ,Emigration' erstmals Gegenstand einer soziologischen Untersuchung. Immer wieder zieht die Soziologie-Historikerin darin Parallelen zur russischen Emigration nach dem Sturz des Zarenreiches, die sie ursprünglich komparatistisch einbeziehen wollte. Der ahnungslos-ahnungsvolle Schlusssatz der Arbeit, 1933 geschrieben, liest sich aus unserem Wissen um die kommenden Ereignisse beklemmend: "Ich hoffe, mit dieser Arbeit über die französische Emigration nach 1789 gezeigt zu haben, daß es sich bei dieser Emigration nicht um eine bloß historische Sondererscheinung handelt, sondern daß sie allgemein emigrantische Züge aufweist, die auch bei anderen Emigrationen festzustellen sind - Emigrationen, die es geben wird, solange die geschichtliche Entwicklung Revolutionen, also gewaltsame Umwälzungen bestehender Zustände hervorbringen wird."
Schließlich das Manuskript dieser Dissertation: Auch dies hat ein bewegendes Emigrantenschicksal, freilich am Ende mit glücklichem Ausgang. Im rechten Moment der Fakultät 1933 wieder ,entwendet', mit der Absicht, es in französischer Übersetzung erneut einzureichen, dann in letzter Fluchtminute in Frankreich mit anderen Habseligkeiten zurückgelassen und für verloren gehalten, aber gerettet, schließlich in die USA nachgereist, 1989 nach Frankfurt remigriert, hat es in einer feierlichen ordentlichen Promotion seiner mittlerweile 81-jährigen Autorin endlich die Ehrung zukommen lassen, die der jungen Nina Rubinstein so brutal verwehrt worden war. Und - das betonen die Laudatoren - es handelt sich nicht um eine Wiedergutmachung aus schlechtem Gewissen, sondern um die schlimm verspätete angemessene Würdigung einer wissenschaftlichen Leistung, um einen Akt der Gerechtigkeit, und schließlich darum, mit dieser Arbeit eine methodische Tradition des Instituts zu demonstrieren, der man sich verpflichtet weiß. Die noch einmal um Jahre verzögerte Publikation ihres Erstlingswerks und Unikats hat Nina Rubinstein nicht mehr erlebt. 1996 ist sie gestorben. Großen Anteil an dem seltenen Ereignis dieser späten Würdigung hat neben den amerikanischen Freunden und den Kollegen des Frankfurter Soziologischen Instituts Hanna Papanek, die jüngere Halbschwester Nina Rubinsteins, Anthropologin in Harvard und seit Jahren eine der anregendsten Stimmen im "Arbeitskreis Frauen im Exil". Ihre hartnäckige Suche nach den Spuren, den Trümmern und den intellektuellen und emotionalen Schätzen ihrer bedeutenden Familie in vielen Archiven Europas hat sie auf ganz neue methodische Bahnen geführt: "In Search of Exile: The Participatory History of a Political Family, 1880 - 2000" werden wir, so hoffe ich, noch in diesem Jahr lesen dürfen.
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