Kurt Tucholsky heute

Eine sorgfältige Neuedition und eine irritierende Resteverwertung

Von Beate Schmeichel-FalkenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beate Schmeichel-Falkenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Mann mit den 5 PS", der Zeitkritiker "mit der eisernen Schnauze und dem goldenen Herzen", der sensible Seismograph der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse und der Meister der deutschen Sprache hatte bereits früher als seine Zeitgenossen begriffen, schon in der Mitte der zwanziger Jahre, welche Gefahr Hitler und seine braunen Horden für Deutschland bedeuteten. Er wusste am Ende der zwanziger Jahre, dass kritische Geister wie er, wie berühmt auch immer, im Lande ihrer Muttersprache ihres Lebens nicht mehr sicher waren - und ging ins Exil nach Schweden. Schließlich zog er als erster einer langen Reihe von prominenten und unbekannten Hitlergegnern die bittere persönliche Konsequenz und setzte 1935 seinem Leben ein Ende. Da war er 45 Jahre alt.

Zehn Jahre nach Tucholskys Suizid in dem kleinen Örtchen Hindås bei Göteborg begann dann mit dem Sieg über den Nationalsozialismus seine zweite Erfolgsstory, vor allem dank des unermüdlichen Engagements seiner "geschiedenen Witwe" Mary Tucholsky. Es wurde eine Post mortem-Karriere ohne Beispiel, die bis heute ununterbrochen andauert. Die Sekundärliteratur wächst weiter, ein neuer Film nach "Schloss Gripsholm" wurde gerade abgedreht, im Kabarett, in den Printmedien und im Rundfunk ist der vielseitige Autor stets präsent.

Den wichtigsten neueren Beitrag der Literaturwissenschaft, die sich mit Autoren wie Tucholsky stets schwer tat, ihn als beachtenswert in ihren Kanon aufzunehmen, stellt die auf 22 Bände programmierte Neuausgabe seiner Werke dar, von der nunmehr zehn Bände vorliegen, mit vielen neuen Texten, bisher unbekannten Briefen, das Ganze kompetent und ausführlich kommentiert. Bis zum Jahre 2004 soll die Ausgabe mit dem Registerband abgeschlossen werden.

Zuvor waren zwei gewichtige Biografien erschienen, sehr unterschiedlich in der Betrachtungsweise und Bewertung des berühmten Autors, dazu eine Anzahl kleinerer, monographischer Darstellungen und Arbeiten zu Tucholskys Umfeld. Zu erwähnen ist die Carl von Ossietzky-Gesamtausgabe, die wie die neue Tucholsky-Ausgabe an der Universität Oldenburg erarbeitet wurde. Kürzlich erschien eine lang erwartete Biografie Siegfried Jacobsohns, Tucholskys engstem Freund und Vertrauten in Berlin in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die auch neues Licht auf Tucholskys widerspruchsvolle Persönlichkeit wirft.

Die letzten Jahre des einstmals in Deutschland so gefeierten Autors, des jetzt "aufgehörten Schriftstellers" und "aufgehörten Deutschen" im schwedischen Exil waren in der Tucholsky- und Exilforschung lange ein weißer Fleck. Begründet war dies in der höchst subjektiven, selektiven Art der sonst so verdienstvollen Nachlasspflege Mary Tucholskys, die vor allem die Liebesgeschichte ihres Mannes mit Gertrude Meyer nicht publik gemacht haben wollte. Sie, eine gebildete, mit deutschen Dingen vertraute und fließend Deutsch sprechende schwedische Jüdin, war Tucholsky in den Jahren in der schwedischen Einsamkeit eine vertraute, wichtige Helferin, die ihn liebte und für ihn sorgte und die ein gemeinsames Leben mit ihm in Schweden wünschte, gegen alle Widerstände politischer und familiärer Art.

Gerhard Zwerenz war einer der ersten, der den Spuren Tucholskys in Schweden nachging und Gertrude Meyer, dann verheiratete Prenzlau, ausführlich interviewte. Seine Recherchen flossen ein in die 1979 erschienene Tucholsky-Biografie, der dann 1980 "Eine Liebe in Schweden" folgte, ein "Roman vom seltsamen Spiel und Tod des Satirikers K. T." - eine Mixtur aus Dokumentation und Fiktion, Recherche, Gesprächsaufzeichnungen, aus Vermutungen, Erfindungen und Selbstgesprächen der Tucholsky-Freundin und des Verfassers Zwerenz.

Dieser Kuriosität lässt Zwerenz nun im Jahre 2000 den Reprint des Buches folgen, nunmehr als "Biographischer Roman" bezeichnet. Das Gleiche also noch einmal, 20 Jahre später, lediglich mit verändertem Titel und Austausch des unsäglichen Covers von damals durch ein etwas weniger kitschiges; am Schluss des Buches zwei Fotos: Tucholsky mit Gertrude Meyer 1935 auf Gotland und Gertrude Meyer-Prenzlau mit Gerhard Zwerenz 1978 in Hindås. Der Text blieb unverständlicherweise unverändert, mit allen Irrtümern, falschen Daten, mit der fehlerhaften Schreibweise Hindas statt Hindås (wie deutsches o gesprochen). Neuere Forschungsergebnisse blieben unberücksichtigt, ebenso wenig wurden die falschen Angaben über den Abschiedsbrief und den Todestag korrigiert, obwohl die wirklichen Daten seit langem dokumentiert sind. Dies alles kein guter Dienst am Autor Kurt Tucholsky und eine Irreführung seiner Leser und Bewunderer. Auch der neue Untertitel stimmt nicht: Die "letzten Jahre" des Kurt Tucholsky spielten sich nicht nur in Schweden ab.

Gottlob liegt ja nun fast die Hälfte der Neuausgabe seiner Schriften vor, die noch fehlenden Bände werden hoffentlich zügig folgen. Hier kann man viele schöne Entdeckungen machen, kann dem faszinierenden Briefschreiber Tucholsky neu begegnen, kann unbekannte Texte kennen lernen und sich an der Aktualität und Brillanz der alten, bekannten Texte freuen.

Titelbild

Michael Hepp: Kurt Tucholsky. Biographische Annäherungen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993.
575 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3498064959

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Helga Bemmann: Kurt Tucholsky. Ein Lebensbild.
Ullstein Taschenbuchverlag, Frankfurt a. M. 1994.
592 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3548353754

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Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe in 22 Bänden.
Herausgegeben von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996.

ISBN-10: 3498065394

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Gerhard Zwerenz: Gute Witwen weinen nicht. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys.
Kranichsteiner Literaturverlag, Pfungstadt 2000.
186 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3929265109

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Stefanie Oswalt: Siegfried Jacobsohn. Ein Leben für die Weltbühne. Eine Berliner Biographie.
Bleicher Verlag, Gerlingen 2000.
293 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3883506656

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