Alle Rollen einer Frau

Diane Schoemperlen erzählt von Joannas Lebenslauf

Von Katrin HagedornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Hagedorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Herz, Subst.1. muskulöses Hohlorgan der Wirbeltiere (...) 2. zentraler, vitaler oder wesentlicher Teil (...) 3. Quelle oder Sitz von Emotionen (...). Siehe auch HERZSCHMERZ, HERZSCHLAG, HERZELEID, HERZKRANK, HERZENSLUST."

Es gibt sicherlich noch unzählige Bedeutungen des Begriffes "Herz", deren Aufzählung den Rahmen einer Rezension, ja eines Buches sprengen würde. Doch der Begriff der Herzenslust fasst in einem Wort zusammen, was das Buch "In der Sprache der Liebe" darstellt, was es bewirkt: Die Herzenslust beim Lesen und Genießen eines wunderbaren Textes auf über 500 Seiten. Diane Schoemperlen schafft es, diesem Buch eine ganz eigene Note zu verleihen. Es liegt nicht nur an der so natürlichen Darstellung der jungen Künstlerin Joanna, die alle Rollen einer Frau in sich vereint. Es liegt vor allem an der spritzigen Sprache, mit der die kanadische Autorin überzeugt.

Wir begegnen in diesem Buch Joanna und verfolgen gemeinsam mit ihr die Stationen ihrer Kindheit, ihres Heranwachsens und ihrer Rolle als Ehefrau, Mutter und Geliebte. Wir erleben Joanna beim Schlittschuhlaufen mit ihren Freundinnen in ihrer Jugend, beim Abendbrot im Elternhaus, bei einer der vielen Nächte mit ihrem Geliebten Lewis in reiferen Jahren oder mit ihrem Sohn Samuel beim Klären unendlich vieler Fragen. Es ist eine Geschichte, die das Leben der jungen Frau mit viel Humor, aber auch Melancholie in Worte fasst, unabhängig von Zeit und Raum. Da findet man zum einen die junge Joanna, die sich für die Spießigkeit ihrer Eltern schämt, wenn sie die Musik in ihrem Zimmer besonders laut stellt und die Mutter einen Grund sucht, um ihr Zimmer zu betreten. Oder wir begleiten Joanna auf ihrem schnellen Gang durch den Supermarkt, der ihr keine Zeit zum Preisvergleich lässt, ganz im Gegensatz zu den stets informierten Hausfrauen der Stadt. Dabei springt die Autorin im Leben der Protagonistin, vereint jedoch die Erlebnisse in präzise gefassten Kapiteln mit eindeutigen Überschriften. Es sind ganz normale Alltagsszenen, die die Autorin beschreibt, Szenen, die jeder tagtäglich miterlebt. Und doch gelingt es Diane Schoemperlen durch Witz und genaue Beobachtungsgabe, ihre Protagonisten spitz zu zeichnen, ohne sie dabei zu karikieren.

Genau einhundert Kapitel umfasst das Buch, jedes mit nur einem Wort überschrieben: "Geheimnis", "Freude", "Ozean", "Kalt". Sie alle bezeichnen direkt oder auch nur im übertragenen Sinne die dargestellte Welt des jeweiligen Kapitels: "Es ist die Art, wie sie ihre Hände halten, die die Männer verrät, dachte Joanna", und im Folgenden werden wir darüber aufgeklärt, wie Lewis und Henry, Thomas und Gordon durch ihr Händespiel ihr Inneres verraten und uns preisgeben. Dabei springt der discours zeitlich von der Kindheit und Jugend Joannas bis zu ihrer Ehe und Rolle als Mutter. Diane Schoemperlen, derzeit eine der aufregendsten jüngeren Autorinnen Kanadas, zeigt uns Joanna in einer Vielfalt, die bemerkenswert ist. Jede Geschichte bietet aufs Neue die Gelegenheit, einen Teil des Lebens der Künstlerin nachzuempfinden. In ihrer Gesamtheit ermöglichen sie dem Leser einen umfassenden Einblick in die bizarre Welt kanadischer Frauen, die als Heranwachsende immer vom großen Glück geträumt haben. Jetzt, da sie erwachsen ist, merkt auch Joannna, dass nicht allein das Glück entscheidend ist, sondern auch ihr Leben vom Zufall und Schicksal bestimmt ist. "Daß er sagte, er würde bis ans Ende der Erde gehen, war gut und schön. Trotzdem wollte er nicht mir ihr zum Essen in die Stadt gehen. Er mußte nach Hause und das Essen für Wanda kochen, die in vierzehn Minuten von der Arbeit zurück sein werde." Joanna bleibt nichts anderes übrig, als allein in die Stadt zum Essen zu gehen. Und wieder fehlt die emotionale Sicherheit, die sie sich eigentlich immer gewünscht hatte. Doch auch in ihrer Ehe mit Gordon findet sie diesen Rückhalt nicht. Ihr Leben scheint auf mehreren Gleisen zu laufen, doch die eigentliche Lokomotive fehlt ihr. Auch wenn die Ehe mit ihrem Mann besser nicht sein könnte, denkt Joanna noch oft an ihren Geliebten Lewis, der sie wegen seiner Schuldgefühle verlassen hat, sie denkt an die Verantwortung für ihren Sohn Samuel oder an die notwendige Pflege ihres einsamen Vaters. "Was, wenn sie von vornherein gewußt hätte, daß die Dinge, die sie liebte, wahrhaftig wertvoll waren, daß das Streben nach ihnen so wichtig war, wie sie glaubte, und daß auch sie selbst wertvoll und wichtig war? Was, wenn sie Eltern gehabt hätte, die an sie glaubten?"

Diane Schoemperlen kann zeigen, dass auch "In der Sprache der Liebe" nicht alles glücken muss: die Wandlung der Person Joanna vom unbefangenen Teenie zur Mutter mit großer Verantwortung zeigt die Parallelen der Lebensläufe auf, auch wenn Mutter und Tochter sich Geheimnisse bewahrt haben.

Ihr zweites Buch, nach dem preisgekrönten Geschichten-Bilderbuch "Formen der Zuneigung" ihr erster Roman, repräsentiert eine abstrakte, aber für die Geschichte unglaublich passende Form. Die vielen kleinen Kapitel, die mitunter nur Auszüge aus Lexika oder zitierte Sätze sind, lassen das Buch zu einem Ganzen werden, das eine faszinierende Geschichte über das amüsante, traurige, abwechslungsreiche, normale Leben einer jungen Frau ist, sprich: ein Buch über die kleinen Dinge, die das Leben so treffend bezeichnen.

Titelbild

Diane Schoemperlen: In der Sprache der Liebe.
Piper Verlag, München 1998.
509 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 349203893X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch