Das Schauspiel der Forschung ist selten langweilig

Zwei neue Bücher von und über den französischen Historiker Marc Bloch

Von Ernst GrabovszkiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ernst Grabovszki

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vollzog sich in der französischen Geschichtswissenschaft ein folgenreicher Paradigmenwechsel. War bis dahin noch die politische Historiographie, die Darstellung "einflussreicher" Persönlichkeiten vorherrschend, wurden mit dem Auftreten zweier junger Historiker alte Einsichten in die Methoden der Geschichtswissenschaft gehörig durcheinander gewirbelt: Lucien Febvre (1878 - 1956) und Marc Bloch (1886 -1944). Die Neuorientierung nahm von der Universität Straßburg ihren Ausgang, wo Febvre und Bloch einander trafen. 1919 erhielt Bloch einen Lehrauftrag für mittelalterliche Geschichte, Febvre hielt im selben Jahr seine Antrittsvorlesung, 1921 wurde Bloch zum außerordentlichen Professor ernannt. Die beiden Gelehrten machten aus der französischen Geschichtswissenschaft eine Wissenschaft vom Menschen, so dass sie sich fortan als eine Sozialgeschichte im wahrsten Sinn des Wortes verstehen konnte. Mit der 1929 gegründeten, bis heute maßgeblichen Zeitschrift "Annales d'histoire économique et sociale" (inzwischen unter dem Titel "Annales. Économies - Sociétés - Civilisations") schaffte sich die neue Historikergeneration ein Forum der theoretischen und empirischen Reflexion.

Die Neuansätze dieser nouvelle histoire reichten von ihrem Anspruch einer "totalen Geschichte" - der historischen Entschlüsselung einer Gesellschaft als ganzer, wie es Jacques Le Goff einmal formuliert hat - über ein neues Verständnis von den Quellen und der Zeit bis hin zu einer Geschichte der Mentalitäten. Neu an diesem Ansatz war u. a., dass er der Historiographie bisher unbeachtete Themen- und Aufgabengebiete erschloss. Bloch plädierte vor allem für eine Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber den Sozialwissenschaften und warb für die vergleichende Methode - eine Forderung, die in der deutschen Methodendiskussion bis in die jüngste Gegenwart erhoben wird.

Die Rezeption der nouvelle histoire setzte in Deutschland zögerlich in den sechziger Jahren ein. Dabei erfreute sich in den letzten Jahren die Person Marc Blochs einer steigenden Präsenz im Bewusstsein sowohl der französischen als auch der deutschen Historiker. Blochs Leben und Werk wurden und werden in Frankreich etwa in den "Cahiers Marc Bloch" oder dem Sammelband "Marc Bloch aujourd'hui. Histoire comparée & sciences sociales" (1990) diskutiert, in Deutschland rief Ulrich Raulff mit seiner eindrucksvollen Monographie "Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch" (1995) einen der Urväter der neuen Geschichtswissenschaft in Erinnerung. Dasselbe Verdienst ist auch Peter Schöttler, wissenschaftlicher Referent am Centre National de la Recherche Scientifique in Paris und Projektleiter am Centre Marc Bloch in Berlin, zuzurechnen.

Der 1999 erschienene Band "Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer" diskutiert Leben und Werk des Historikers von Neuem. Die sieben Originalbeiträge von deutschen, französischen und Schweizer Autoren behandeln Blochs Werk aus biographischer, historiographischer, theoretischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. Darüber hinaus können hier kürzere Texte Blochs erstmals in deutscher Übersetzung nachgelesen werden. Ergänzt wird das Buch durch ein Verzeichnis der Schriften Blochs und einer Bibliographie mit ausgewählter Literatur über den Historiker.

Die biographisch orientierten Beiträge kehren vor allem Blochs enges Verhältnis zu Deutschland und seiner Kultur hervor: Bloch hatte je ein Semester in Berlin und Leipzig studiert und sein Leben lang den Fortgang der Geschichte Deutschlands verfolgt - Ironie des Schicksals, dass der französische Historiker aufgrund seiner Tätigkeit für die résistance 1944 von der Gestapo ermordet wurde. Peter Schöttler rollt dieses Verhältnis aus biographischer, historiographischer und politischer Perspektive auf. Bertrand Müller behandelt Blochs Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften, die für den Neuansatz der französischen Geschichtswissenschaft wie erwähnt eine zentrale Rolle spielten und nicht zuletzt ein Problem der Ausbildung und der (internationalen) Forschungsorganisation geblieben ist. Otto Gerhard Oexle diskutiert die Genese der Historischen Kulturwissenschaft im Kontext der Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt im Hinblick auf die Geschichte der Naturwissenschaft. Ein mittlerweile überwundener Aspekt der Bloch-Rezeption ist die gelegentlich behauptete gedankliche Nähe zu Karl Marx. Ludolf Kuchenbuch stellt das Verhältnis zwischen Bloch und Marx schon in der Überschrift seines Beitrags als fraglich dar. Nach einer kurzen Diskussion der Beschäftigung Blochs mit der Verfassungsgeschichte seiner Zeit von Michael Borgolte behandelt Ulrich Raulff dessen Verhältnis zur Zeit und Zeitgeschichte. Die Beiträge entfalten also neben ihrer Auseinandersetzung mit wesentlichen Momenten des Bloch'schen Werks ein Stück Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und erörtern implizit und explizit die Frage nach dessen Aktualität. Zudem ist ihnen das Verdienst anzurechnen, dass sie mit den Images, die man sich von Bloch zurecht gelegt hat, bewusst umgehen und gegebenenfalls korrigieren.

Wer nun zentrale Arbeiten aus dem Werk Blochs nachlesen möchte, dem bietet sich mit dem Band "Marc Bloch. Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft" eine hervorragende Gelegenheit. Die darin versammelten Aufsätze geben Einblick in die Genese geschichtstheoretischen Denkens und die Organisation praktischer Forschung. Zwar sind einige wesentliche Arbeiten der Annales-Historiker bereits aus dem Band "Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der 'Annales' in ihren Texten" (1994) bekannt, doch kaum ein deutschsprachiges Buch gewährt dem Leser einen derart ausführlichen Einblick in das Schaffen Blochs. Hier sind wichtige Aufsätze zu Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft versammelt, etwa über Quellenkritik, kollektive Vorstellungen sowie fünf Beiträge zur vergleichenden Methode in der Geschichtswissenschaft.

Der Band trägt also weiter zur Rezeption Blochs und damit der nouvelle histoire in Deutschland bei. Seine wichtigsten Bücher, "Die Feudalgesellschaft" und "Die wundertätigen Könige" liegen bereits in deutscher Übersetzung vor. Daneben eignet sich dieser Band nicht nur als Einführung in die französische Geschichtswissenschaft, sondern sollte auch durch die Hände von Studienanfängern wandern: Wer sonst als Bloch könnte so gewandt und tiefschürfend in die Grundlagen einer Wissenschaft einführen, die ihm einige ihrer wichtigsten Impulse im 20. Jahrhundert zu verdanken hat.

Titelbild

Peter Schöttler (Hg.): Marc Bloch - Historiker und Widerstandskämpfer.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
280 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 359336333X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Peter Schöttler (Hg.): Marc Bloch. Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
364 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593362791

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