Fülle des Wohllauts

Harald Eggebrecht stellt "Große Geiger" der letzten 150 Jahre vor

Von Eike BrunhöberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eike Brunhöber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was unsere Zeit braucht und verlangt, ist nicht geschicktes Beamtentum und Betriebsamkeit, sondern Persönlichkeit, Gewissen, Verantwortlichkeit. An Intellekt, an 'Talent' ist Überfluß."

(Hermann Hesse)

Was Hermann Hesse zu Beginn des 20. Jahrhunderts beim Nachdenken über Entwicklungen in der Kunst aufs Briefpapier brachte, hat für den Beginn des 21. nichts an Aktualität und Dringlichkeit eingebüßt, weder im Kunstbetrieb, noch in anderen Lebensbereichen. Auf den Musikbühnen der Welt erfährt man dies besonders eindrucksvoll durch das glatte, konturlose Spiel akrobatischer Instrumentalvirtuosen, die die Begeisterungsstürme des Publikums vor allem durch technische Perfektion, Fehlerfreiheit und atemberaubende Tempi hervorrufen, mitnichten jedoch durch individuellen musikalischen Ausdruck. Technische Brillanz und Virtuosität werden zum Selbstzweck, Dienst an der Musik und Dialog mit dem Publikum zweitrangig.

Dies alles ist Anlass für den Musikwissenschaftler und Publizisten Harald Eggebrecht, sich den musikalischen Karrieren einiger der größten Geiger der letzten beiden Jahrhunderte zuzuwenden, die gewissermaßen ganz im Sinne Hermann Hesses musizierten bzw. dies immer noch tun: mit unverwechselbarer Persönlichkeit, einem gesunden Idealismus und in einem Gefühl der Verantwortung für die Musik. Angefangen beim 1831 geborenen Joseph Joachim spannt er den Bogen über Heroen wie Kreisler, Flesch und Ysaye bis hin zu Perlman, Kremer, Anne-Sophie Mutter und vielen anderen. Er beschreibt die musikalischen Leistungen und Eigenarten von Violinisten, die der Musikwelt bleibende Erlebnisse bescherten. Grundlage des Buches ist eine Hörfunk-Sendereihe, die Eggebrecht für den Norddeutschen Rundfunk produzierte und die dort 1995 und 1997 zu hören war (und zur Zeit allsonntaglich wiederholt wird).

"Das Wunderkind kommt herein - im Saale wird's still. Es wird still, und dann beginnen die Leute zu klatschen. [...] Sie haben noch nichts gehört, aber sie klatschen Beifall; denn ein gewaltiger Reklameapparat hat dem Wunderkinde vorgearbeitet, und die Leute sind schon betört, ob sie es wissen oder nicht." - So beginnt Thomas Mann seine Erzählung "Das Wunderkind". Eggebrecht zitiert den Beginn der Mannschen Skizze in seinen beiden Einführungskapiteln über den Musikbetrieb, seine Vermarktungsmechanismen und seine Virtuosen-Stars - eine treffende und beziehungsreiche Auswahl. Scharfsinnig und kritisch gibt Eggebrecht zu bedenken, wie sehr die kommerzielle Überreizung des Musikmarktes das Konzertleben beschädigt. Angesichts aggressiver Vermarktungsstrategien und der klanglichen Sterilität vieler CD-Produktionen seien Hörgewohnheiten am Verkümmern und das Konzert werde zum "Event", an dem das Drumherum interessanter zu sein scheine als der musikalische Inhalt. Die Bereitschaft zu vertieftem Hören in einem Konzertsaal sei nur noch bei den wenigsten vorhanden, da man es vorziehe, sich zu Hause eine der zahlreichen CD-Einspielungen anzuhören und auf das unmittelbare und persönliche Live-Erlebnis keinen Wert mehr lege. Da scheine es, wolle man noch Konzertkarten verkaufen und neue CDs an den Mann bringen, als sei der Aufbau eines glamourösen Star-Images durch gezielte Vermarktung und Werbung der einzige Weg, auf einen Interpreten und ein Musikereignis aufmerksam zu machen. - "Er sitzt und spielt, ganz klein und weiß glänzend vor dem großen, schwarzen Flügel, allein und auserkoren auf dem Podium über der verschwommenen Menschenmasse, die zusammen nur eine dumpfe, schwer bewegliche Seele hat, auf die er mit seiner einzelnen und herausgehobenen Seele wirken soll...", liest man denn auch an anderer Stelle in Thomas Manns "Das Wunderkind", wie sich ein oberflächlicher, übermäßig kommerzialisierter Musikbetrieb diejenige Zuhörerschaft geriert, die er verdient.

So lassen die beiden essayistischen Anfangskapitel auf lebendige Einführungen in die Lebenswerke großer Violinisten hoffen, auch wenn Eggebrecht erheblich über das Ziel hinausschießt, wenn er vorübergehend seine ansonsten durchdachte Art der Bewertung vergisst und Gidon Kremers subtile und leidenschaftliche Einspielungen von Musik Astor Piazzollas pauschal und ohne nähere Argumentation als bloße Effekthascherei abkanzelt (Eggebrecht: "befremdend fremd"). Doch mag dem Geigenexperten die Untersuchung der individuellen Merkmale der beschriebenen Musiker trotz aller Sachkenntnis nicht gelingen, jedenfalls nicht in seiner Bearbeitung für das Printmedium.

"Artikulieren heißt vermenschlichen", zitiert Eggebrecht Sergiu Celibidache und will angesichts sinnentleerter Entwicklungen auf dem Musikmarkt das Augenmerk wieder auf die eigentlich entscheidenden Dinge richten: auf die individuelle musikalische Interpretation, den persönlichen Stil und die Persönlichkeit des Musikers, oder, wie Eggebrecht es formuliert, auf die Frage: "Was spielt wer wie?"

Und wer nun was wie spielt, gibt Eggebrecht sich zu beschreiben denn auch über 400 Seiten lang alle erdenkliche Mühe. Sei es der "gleißende Ton" Pablo de Sarasates, das "risikofreudige" Zupacken Pinchas Zuckermans oder der "geistreiche Klangzauber" Frank Peter Zimmermanns: Das facettenreiche Spiel großer Violinisten wird von Eggebrecht detailfreudig in Worte gefasst - und doch wird sein Streifzug durch die Geigenwelt zu einer folgenlosen, den Leser im Kreis umherführenden Irrfahrt, weil das fehlt, was die Hörfunkfassung der Arbeit noch hatte: das akustische Klangbeispiel. Das Buch hätte eine CD mit den von Eggebrecht so ausführlich beschriebenen Konzertmitschnitten und Einspielungen bitter nötig gehabt. So trocknen Eggebrechts 451 Seiten lange verbale Schilderungen musikalischer Interpretationen unaufhaltsam aus, denn allzu allgemeine Beschreibungen wie "Phrasierungskunst" und "Charme der Artikulation" bedürfen akustischer Vorführung. Eggebrechts Analysen der musikalischen Ausdrucksweise seiner Violin-Heroen lebt vom unmittelbaren Nacherleben und kritischen Nachvollzug des gerade Gelesenen anhand von Klangbeispielen. Mit diesem Konzept gelang ihm eine reizvolle und gewinnbringende Hörfunksendung; sein Buch jedoch verpufft wirkungslos im Nichts und hinterlässt eine knochentrockene Staubwolke.

Dem ursprünglichen Hörfunkmanuskript fügte Eggebrecht für die Buchveröffentlichung einige Passagen der weiteren Differenzierung hinzu. Das grundsätzliche, auf Klangbeispiele angewiesene Konzept veränderte er jedoch nicht und macht damit das Buch sogar für passionierte Geigenkenner mit reichhaltigem Tonträger-Bestand letztlich zu einer mühsamen Trockenübung. Auch biographische Hintergründe der Musiker und außermusikalische Begleitumstände der beschriebenen Aufführungen werden nur oberflächlich angerissen und so hat man schon sehr bald das Gefühl, ein reines Hörfunkmanuskript ohne das wesensmäßig dazugehörige Tonmaterial in Händen zu halten.

Dass Eggebrecht sein Hörfunkmanuskript nicht eingehend genug bearbeitete, um es zu einem wirkungsvollen Buch werden zu lassen, offenbart sich auch in der Sprache, die durchweg vom radiogerechten Bemühen zeugt, das Verb möglichst weit vorne im Satz zu platzieren, um dem Hörer das Hörverstehen zu erleichtern. Sätze wie "Sie tupfte, riß, fetzte manche Akkorde rabiat hin fern aller Geigenschönheit", "Primrose hat Schumsky bezeichnet als 'einen der größten Virtuosen, die ich je erlebt habe'" oder "Weil sie die Phrasen [...] ausspielte ohne Drücker[...]" sind schon im Hörfunk sprachästhetisch nicht immer glanzvoll, jedoch im Hinblick auf die Erleichterung des Hörverstehens legitim; bei fortwährendem Auftreten in einem Buch aber beginnen sie den Leser schon alsbald regelrecht zu verfolgen. Die unterschiedlichen Anforderungen der Hör- und Printmedien lassen sich eben nicht einfach im Handumdrehen einebnen.

Der Musikbranche jedenfalls wünscht man sich ebenso wie Eggebrecht mehr Musiker mit Idealismus und dem Willen zum echten Dialog mit dem Publikum, etwa solche wie die 19-jährige amerikanische Violin-Entdeckung Hillary Hahn; diese erzählte jüngst in einem Interview, dass sie eine bestimmte Lektion ihrer bedeutendsten Lehrerin besonders beeindruckend fand: die Aufforderung, als aufführender Künstler das Konzert immer als eine Art Geschenk für das Publikum anzusehen. Da bleibt die Hoffnung auf die ungestörte Entwicklung derartiger Musiker und die Bitte an die Plattenindustrie und die Konzertagenturen, uns von Akrobaten vom Schlage eines Nicolò Paganini zu verschonen. Als jener "Teufelsgeiger" Konzertreisen durch das Europa des frühen 19. Jahrhunderts unternahm, gab es, wie uns ein leidender Zeitgenosse überlieferte, plötzlich Paganini-Bilder in Schaufenstern, auf Tabakdosen, Servietten und Billardqueues, in Konditoreien Gebäck in Geigenform und in Restaurants "Rostbraten à la Paganini". Nicht von ungefähr fühlt man sich dabei an das erinnert, was Fußballvereine heute so weltläufig "Merchandising" nennen.

Titelbild

Harald Eggebrecht: Große Geiger. Kreisler, Haifetz, Oistrach, Mutter, Hahn & Co.
Piper Verlag, München / Zürich 2000.
472 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3492042643

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch