Über das Zusammenfügen von Teilen

Zauber der Geschmacklosigkeit in Paulus Böhmers Gedichten

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Da sagte Einstein:
Ich muß es nicht wiederholen, ich sage immer dasselbe,
Alles ist Ein Gedanke, Ein Kontinuum... das ist es."
'Einen am guten Geschmack restlos desinteressierten Dichter', nannte ihn einer seiner Freunde in einer Hommage (1998). Böhmer tat sehr recht daran, sich gegen diese nur anscheinend despektierliche Charakterisierung nicht zu verwahren. In der Tat liegt die Bannkraft seiner Dichtung eben in der Vermeidung jeden 'Geschmacks', verstanden als Kriterium für Wort- und Gedankenwahl. Stattdessen vertritt Böhmer ein im Wortsinn 'katholisches', vorurteilslos unvoreingenommenes Wahrnehmen alles Gegebenen: Gott, der "normalerweise in der Niere" hockt, und "Mösen [die kleine Mädchen betrachten], als handele es sich / um das behütete Schmelzen des Käses in Pfannen", Amöben und Galaxien, zwei Erzengel namens "Ammoniak & Essigsäure", Idi Amin, Pu der Bär, Picasso und Jimmy Hendrix, Freud und Popper, Zitate von Mörike, Matthias Claudius und "Casablanca", der Dilldapp und der Arsch - sie alle werden in Böhmers Lyrik gleichberechtigt aufgerufen. Denn von allem zu sprechen ist Programm und Sinn dieses Dichtens.

Wie in seinen früheren Bänden "Da sagte Einstein" und "Säugerleid. Kaddisch und andere Gedichte", sind die Verse in "Palais d'Amorph (parler d'amour?)" auf Mittelachse, d. h. zentriert gesetzt. Schon beim Aufschlagen der Seiten erfasst das Auge das An- und Abschwellen der Verslängen wie die Darmbewegung einer Boa Constrictor. Die Lektüre bestätigt dann diesen ersten Eindruck: in einer unendlichen Litanei schlingt diese Lyrik die Realität in sich hinein, nährt sich in gargantueskem Hunger an der unerschöpflichen Vielfalt des Chaos aus bekannter Literatur und Kunst, Erkenntnissen von Naturwissenschaft und Technik, Formelrelikten der jüdischen und christlichen Religion, Großstadtrealität, surrealistischen Naturszenerien, drastisch geschilderter Körperlichkeit und der mächtigen Banalität des Alltags.

"In Wirklichkeit sind die Worte / die Schwarzen Löcher." Demgemäß entwickelt Böhmers Sprache einen Sog, dem nichts, nicht hehrster Begriff, noch trivialstes Detail, entgeht. "In unsrer (?) Milchstraße gibt es / Millionen Schwarzer Löcher & in ihnen / ebenso viele andere Universen & in jedem von ihnen / unzählige Schwarze Löcher mit weiteren / Universen mit unzähligen Schwarzen Löchern / und / in jedem von ihnen ein weiteres Universum / mit unzähligen Schwarzen Löchern mit / [...] unzähligen weißen / Möwen, die auf dem Rücken der Glattwale landen / und große Fetzen Haut & Fettgewebe reißen." ("Über das Zusammenfügen von Teilen"). Ein solcher Übergang - ein Zoom-Effekt von der abstrakten Reflexion bzw. dem unendlichen Regress, als Lieblingschiffre der Postmoderne, zu einem präzise imaginierten biologischen Bild - ist typisch für diese Lyrik; wie auch die umgekehrte Bewegung von der historischen Konkretion zu einem surrealistischen Tableau: "Später gehen Bomben nieder, Flugzeuge schmieren ab. Bäuche / wölben sich trommelartig über Schmalhüften, in Pfützen / summt Froschlaich, Fangapparate / streifen Hosen herunter...."

Substantive ohne Artikel und Ketten von thematisch unverbundenen Hauptsätzen stehen in Böhmers Lyrik für den Blick auf die Gesamtheit der Erscheinungen: "Stricke sind mit Benzin getränkt. Kapitalströme / fließen. Bruststimmen gehen zu Kopfstimmen über." Häufig ist es ein unmittelbarer Selbstwiderspruch, der die jeweilige Aussage aufhebt und auf ihr Gegenteil entgrenzt ("eben, / eben noch, jetzt, vor langer Zeit"; "eine Motte / ist eine Motte, ist keine Motte", eine durch Magritte abgefälschte Gertrude Stein-Kontrafaktur, oder ein Eichendorff-Anklang: "So denk an mich, als flögest du nach Haus. / So flieg, als flögest du nicht.").

Die Grundstruktur der Lyrik Böhmers ist die Aufzählung, die der Dichter mit schwindelerregender Virtuosität handhabt: die Ohm etwa, der kleine oberhessische Fluss seiner Heimat, reibt, raspelt, fegt sich an Büschen und Bäumen, bläst, quaggelt, quengelt, seicht, bafelt, summt, lutscht an gelben Spuren, schnieft über Leichenschichten, zuzzelt an Labben & Fossen, schwafelt, jaunt, flutscht, schnalzt, nuschelt, quasselt, quarkt, quarrt, quackt, tuschelt, lispelt... etc. und das sind nur die Verben der Satzperioden! Deren Objekte und Ergänzungen folgen in weiter verhundertfältigenden Wortkaskaden und Lautassoziationen: "Gewächse aus Wasser und Worten: Lehm- / flomen Ohm oh / Schnepfenstill oh Häher-/ trill Aldi der Krähen / oh Hornissensud / oh Eschenritz / oh Holozänscharwumme / Selbstmörderwampe / [...] / Milchstautunte / oh Laudanumlake / oh Selbstei oh Amöbenpiß / [...] / Tierrumpfmadonna Stutenschlick / Albinowimper / oh Analmeduse..." Die Technik vorurteilslosen 'Zusammenfügens von Teilen' zündet auch immer wieder Komik, erheiternde Kurzschlüsse des Inkongruenten: "Daß Winden sich in Winden winden. [...] / Daß es hütetragende Mütter gibt. / Und Backpflaumen. Und Gespräche / über Fixierungen und Komparatistik."

Was die einzelnen Gedichte zu interner Einheit bildet, sind Wiederholungen und Parallelismen: Perioden beginnen mit gleichen Worten, kurze Sätze kehren refrainartig wieder. Doch was sich daraus an Ordnungsleistung ergeben könnte, geht - bei jedem im mindesten falschen Lesen - unwahrgenommen im hypnotisierenden Charakter der Texte auf. Hierin liegt auch das Risiko der Böhmerschen Texte: dass der Leser für die einzelnen Bilder dieser Welt-Umschlingung abstumpft und eine zutiefst humane Umvoreingenommenheit als Beliebigkeit mißversteht.

Darum zählt zu den eindrücklichsten Gedichten der Sammlung dasjenige, das dem Wort- und Bilderandrang eine konkrete, psychologische Begründung gibt. Es trägt den bezeichnenden Titel "Wer ich bin?" und wiederholt diese Frage leitmotivisch. Seine einzelnen Sektionen werden jeweils durch Motti eröffnet, die bürokratisch nüchterne Handlungsanweisungen enthalten. Diese erklären, wie bei der Exekution eines Menschen auf dem elektrischen Stuhl vorzugehen sei ("Beine der Person in Elektrodenschaft einführen. Schaft schließen"; "Elektroden mit milder Seife und Waser reinigen."; "Abtropfpfanne entfernen und entleeren, waschen..."). In dem Situationsrahmen einer Exekution erscheint dann der Haupttext als das Bewusstsein des Verurteilten, der sein Leben blitzartig an sich vorüberziehen sieht und panisch fragt: "Wer ich bin?" Wer wir sind? Ein Palast des Formlosen.

Titelbild

Paulus Böhmer: Palais d'Amorph. Gedichte.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
160 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3929232286

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