Gefangen durch Verpflichtung und Liebe

Margaret Atwoods Erfolgsroman "Der blinde Mörder"

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laura Chase ist fünfundzwanzig Jahre alt, als sie mit ihrem Auto von einer Brücke in die Tiefe stürzt - das Ende eines Lebens, das von außen betrachtet privilegiert und luxuriös erscheint, aber im Geheimen von Verlust, Unglück und Verlangen geprägt ist. Vierundfünfzig Jahre später beginnt ihre inzwischen 83-jährige Schwester Iris, Lauras Geschichte und ihre eigene aufzuschreiben. Auf diese Weise werden lange gehütete Familiengeheimnisse enthüllt.

Trotz des frühen Todes der Mutter verleben Iris und Laura eine behütete Kindheit und Jugend auf dem Familienanwesen Avillion in Kanada. Die Depression der 30er Jahre bringt die Fabrik ihres Vaters an den Rand des Konkurses. Da Iris und Laura als 'höhere Töchter' keine Ausbildung erhalten haben und sich folglich nicht selbst ernähren können, wird Iris in eine arrangierte Ehe mit dem Geschäftsmann Richard Griffen gezwungen, um das Geschäft ihres Vaters zu retten und den Lebensstandard der Schwestern zu sichern. Die fünfzehnjährige Laura hat inzwischen eine Affäre mit dem polizeilich gesuchten politischen Agitator Alex Thomas begonnen. Seinen Tod kann sie nicht verwinden und beschließt, auch dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.

Iris veröffentlicht ein Manuskript ihrer Schwester, das die Liebesgeschichte zwischen Laura und Alex in für damalige Zeiten ungewöhnlich freier Art erzählt und das Laura über Nacht zur gefeierten Schriftstellerin werden lässt. Am Ende ihres Lebens versucht Iris, sich über die damaligen Geschehnisse klar zu werden. Auch darüber, inwieweit sie für die negativen Erlebnisse und Tragödien in ihrem Leben selbst verantwortlich war und wie diese Dinge von unabänderlichen Gegebenheiten wie Geschlecht und gesellschaftlicher Position beeinflusst waren.

Die Lebensgeschichte der Iris hebt sich wohltuend von jenen Romanen ab, die junge Frauen der 'besseren' Gesellschaft nach einer privilegierten Kindheit in ein Erwachsenendasein ohne Brüche und Krisen führen. Dennoch ist es schade, dass Margaret Atwood ihrer Heldin letztlich so wenig 'Mumm' mitgibt - es müssen dreißig Jahre von Iris' Leben vergehen, bis sie zum ersten Mal aufbegehrt.

Margaret Atwood erzählt Iris' und Lauras Geschichte auf drei Ebenen: anhand von Iris' Rückblick, Lauras Manuskript und diversen Zeitungsausschnitten. Atwood hat mit "Der blinde Mörder" nicht nur die Geschichte eines Frauenlebens geschrieben, sondern auch einen historischen Roman, eine Liebesgeschichte, eine Sciencefiction-Story und die Geschichte zweier Schwestern. Sie belohnt das Interesse des Lesers mit einer Geschichte von außergewöhnlicher Dichte, der es gelingt, die sozialen, industriellen und politischen Ereignisse in einer kanadischen Kleinstadt nachzuzeichnen und eine Chronik des 20. Jahrhunderts darzustellen.

Titelbild

Margaret Atwood: Der blinde Mörder.
Deutsch von Brigitte Walitzek.
Berlin Verlag, Berlin 2000.
400 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3827000130

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