Mit oder ohne Gott leben

Minois wirft einen wohlwollenden Blick auf den Atheismus

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer war zuerst da, der Atheist oder der gottesgläubige Mensch? Nach allgemeinem Dafürhalten setzt der Atheismus einen Monotheismus voraus und ist eine heidnische Reaktion auf ihn. Der Religions- und Sozialhistoriker Georges Minois freilich ist da anderer Meinung. Der Atheismus, so erklärt er, ist ebenso alt wie die Religionen und erfreut sich einer längeren Geschichte als das Christentum. Aber wenn man es genau betrachte, dann seien weder der Glaube noch der Unglaube am Anfang vorhanden gewesen, sondern ein mythisches Bewusstsein. Folglich sei dieses ein Grundbedürfnis des Menschen und nicht die Religion.

Nach Büchern wie "Die Hölle" (1994), "Geschichte des Selbstmords" (1996) und "Geschichte der Zukunft" (1998) legt Minois erneut ein umfang- und materialreiches Handbuch vor, diesmal über die Geschichte des Atheismus von der Antike bis zur Gegenwart, wobei er religionssoziologische und verwandte Forschungsgebiete mit berücksichtigt. Zu Recht weist er darauf hin, dass - abgesehen von Fritz Mauthners vierbändigem Werk "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland" (1920 bis 1923) - das Gebiet des Unglaubens bisher nur selten aus historischer Perspektive untersucht worden ist, obwohl der Atheismus seine eigene Geschichte hat, die, nach Meinung von Minois, nicht einfach das Negativ der Geschichte des religiösen Glaubens ist, obgleich nicht wenige sie dafür halten. Vielleicht liegt das an der negativen Konnotation, überlegt Minois, die sich mit dem Unglauben verbindet, oder weil in der Vorstellung, dass Menschen ohne Gott und ohne Teufel existieren, ein gewisses Unbehagen liegt.

Manchmal gilt selbst heute noch ein Mensch ohne Gott als ein Mensch ohne Moral und als Gefahr für die Gesellschaft. Lange Zeit stammten die einzigen Zeugnisse über Unglauben von religiösen Autoritäten, die ihn unterdrückten, vor allem im 16. und 17. Jahrhundert. Wer Atheist ist, bestimmt oft der andere, der Kontrahent. Für die Philosophen des Altertums etwa waren die Urchristen häretische Sektierer. In den Augen der Christen galten dagegen Buddhismus oder Taoismus als Atheismus und Polytheismus als Götzendienst. Die Kirchenväter betrachteten ohnehin all jene als Atheisten, die nicht an den Gott der Christen glaubten. Für den Protestanten Antoine de La Roche-Chandrieu gab es keinen schlimmeren Atheisten als einen Katholiken, und für seine Gegenseite galt Luther als Atheist.

Wie soll man die Geschichte einer Haltung (denn das war der Atheismus zunächst) nachzeichnen, die offensichtlich keinen positiven Inhalt hat? fragt der Autor und macht deutlich, dass die Haltung des Unglaubens ein fundamentaler Bestandteil jeder Gesellschaft ist und sich keineswegs auf den Nicht-Glauben beschränkt. Vielmehr sei sie eine Affirmation der Einsamkeit des Menschen im Universum, die Stolz und Angst erzeugt. Ein Atheist leugnet die Existenz eines übernatürlichen Wesens, das in sein Leben eingreift. Dafür glaubt er an den Menschen, so Minois, was immer das auch heißen mag, und gründet seine Moral oder Ethik auf den homo sapiens. Nicht an Gott zu glauben, sei mithin keine negative Haltung. Es ist eine Position, die autonome praktische und spekulative Entscheidungen nach sich zieht.

Wie die Religion steht auch der Atheismus im Plural. Er hat sich entwickelt und verschiedene, zuweilen sogar antagonistische Formen angenommen. So gibt es den Atheismus des Protestes gegen die Existenz des Bösen, gegen moralische Verbote, gegen Freiheitseinschränkung und den spekulativen Atheismus in Krisenzeiten der Werte. In seiner radikalen Ausprägung tritt der Atheismus zwar erst im Gefolge des modernen Materialismus und Marxismus auf, doch in seiner agnostischen Form existiert er schon im alten Griechenland, bei den Vorsokratikern und den Sophisten. Im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung lehrten bereits Parmenides, Heraklit, Xenophanes aus Kolophon die Ewigkeit der Materie. Es folgten Epikur und seine Schule, die Kyniker und Skeptiker. Außerhalb der abendländischen Kultur haben bereits zweitausendfünfhundert Jahre vor Christus indische Weise verkündet, dass der Himmel leer sei. Auch das antike Persien kannte eine Form von Atheismus. Das Gleiche gilt für die Hebräer: Mehrfach hadern die Psalmen mit den Gottlosen, die die Existenz Gottes leugnen.

Bis Mitte des 20. Jahrhunderts bilden Gläubige und Ungläubige im Abendland zwei antagonistische Welten. Erst in jüngster Zeit scheint der Gegensatz endlich überwunden zu sein. Dabei haben Gläubige und Ungläubige, meint Minois, keinen Grund, sich zu befehden, denn schließlich werden wir alle geboren, ohne darum gebeten zu haben, leben, ohne zu wissen, warum, und sterben, ohne eine Entschuldigung zu erhalten. Viele stellen sich keine Fragen, das sind wahrscheinlich die glücklichsten, andere haben fertige Antworten parat, und wieder andere fragen und geben sich mit keiner Antwort zufrieden. Der Autor rechnet sich zur dritten Gruppe. Unverkennbar schlägt sein Herz für Atheisten und Zweifler. Die Geschichte des Atheismus ist nicht die Geschichte einer Minderheit - Minois zählt Pantheisten, Skeptiker, Agnostiker und Deisten kurzerhand zu den Atheisten -, sie betrifft Millionen von Menschen, die nicht an Gott oder eine göttliche Weltordnung glauben, weil sich ein Glaube nicht verordnen, nicht beweisen, nicht von außen aufzwingen lässt. Vermutlich bilden Atheisten die Mehrheit der Menschheit.

Ausführlich geht der Autor auf den Atheismus im Altertum und im Mittelalter ein, auf Platon, der die Gottesverneiner bekämpfte, obwohl er ein Schüler und Anhänger von Sokrates war, der als angeblicher Gottesleugner den Schierlingsbecher leeren musste. Minois hebt ferner hervor, dass das Mittelalter nicht, wie häufig angenommen, rein christlich gewesen sei. Manche Gelehrte klammerten den Glauben aus, wenn sie die Natur studierten. Ihre nominalistischen Gegner nahmen die umgekehrte Haltung ein. Aber der Kryptoatheismus ist der gleiche: Vernunft vermag Gott nicht zu beweisen. Im Volk versank Gott gleichsam in einem Amalgam abergläubischer Vorstellungen. Der Alltag der Bauern scheint ebenfalls vom praktischen Atheismus nicht weit entfernt gewesen zu sein. In der Christenheit pflegten Ende des 15. Jahrhunderts, behauptet der Verfasser, nicht unerhebliche Teile der Gesellschaft einen latenten theoretischen und praktischen Atheismus. Sicherlich muss man beim Anstieg des Atheismus im 16. Jahrhundert den Wunsch nach Befreiung der Sitten, besonders der sexuellen, in Rechnung stellen. Außerdem haben die Renaissance des antiken Mythos, die großen Entdeckungsreisen und die Begegnung mit atheistischen Völkern eine Reihe von Menschen im Abendland zum Nachdenken und Zweifeln angeregt.

Allerdings war der Atheismus, der zu dieser Zeit als Geißel der Menschheit verfolgt wurde, noch kein systematischer, kein heiterer Atheismus und besaß noch keine richtige Lehre, sondern war "eher eine Haltung schierer Revolte gegen die Tyrannen der Credos." Doch dann, im 17. und 18. Jahrhundert, wurde sein Aufstieg als Weltanschauung von mehreren kulturellen Krisen Europas begünstigt. Insbesondere im 18. Jahrhundert wurden die Grundlagen des Christentums mehr und mehr in Frage gestellt. Mit einem Schlage öffnete sich die beängstigende Perspektive: eine Ewigkeit ohne Gott, eine Ewigkeit der Leere. Im 19. Jahrhundert tritt dann Nietzsche mit seiner Verkündigung "Gott ist todt!" auf den Plan.

Wie steht es heute um den Atheismus und seinen Gegenpol, den Glauben? Minois' Resümee lautet: das 20. Jahrhundert, weit davon entfernt, den Sieg einer Gewissheit über eine andere anzuzeigen, endet mit dem Anstieg der Ungewissheit. Gegenwärtig glaubten mehr als ein Fünftel der Menschen nicht mehr an Gott und unter den übrigen befänden sich sicherlich zahlreiche Gleichgültige, Sektierer und Agnostiker. Zudem vollzieht sich der Zerfall der großen religiösen Komplexe zugunsten eines spiritualistischen Nebels. Allerdings hält Minois die Wiederkehr des Religiösen für eine Illusion. Die Wiederverzauberung der Welt stehe nun einmal nicht auf der Tagesordnung, denn die Welle der Schutzengel, des Spiritismus, des Paranormalen sei nur ein kindisches Spiel mit therapeutischer Zielrichtung. Am Ende des alten und zu Beginn des neuen Jahrtausends gleicht die abendländische Kultur nach Ansicht des Autors einem Trümmerfeld. Die Debatten drehten sich nicht mehr um die Frage nach der Existenz Gottes. Die einen sprechen zwar noch von Gott, Allah, Jehova und anderen. Doch der Inhalt ihrer Rede ist nicht mehr religiös, sondern politisch. Und andere wiederum sprechen statt von Gott von der Erfüllung des Menschen und seinem inneren Gleichgewicht und sehen im Ich den letzten heiligen Wert.

Nach dem Jahrhundert des Todes Gottes steht uns nun das Jahrhundert des Todes der Gewissheiten ins Haus, zum Nachteil sowohl des Glaubens wie auch des Atheismus, denn beiden ist die globale Weltsicht gemein. Sie werden gemeinsam fortdauern oder gemeinsam untergehen, verkündet Minois prophetisch.

Die Frage lautet indessen nicht so sehr, ob das 21. Jahrhundert religiös oder atheistisch, fromm oder ungläubig sein werde, sondern ob der Mensch noch den Willen und die Mittel habe, sich eine Zukunft zu erfinden.

Fürwahr, ein etwas kläglicher Schluss nach dem langen furiosen Durchgang durch die Geschichte des Atheismus. Ob wir uns wirklich damit zufrieden geben müssen?

Titelbild

Georges Minois: Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar, Weimar 2000.
740 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3740011041

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