Psychoanalyse als Philosophie der Revolution

Hinweise auf ältere und neuste Literatur zu Otto Gross

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Doktor Kreuz, der jahrelang Morphinist gewesen war und vor einiger Zeit zu Kokain übergegangen war, saß im kleinen Zimmer und preßte mit beiden Händen die Hand seiner Frau, als er aus eigenem Antrieb versprach, daß er sich noch einmal einer Entwöhnungskur unterziehen werde, damit sie dann ein Kind haben könnten, das bei der Empfängnis nicht benachteiligt sei. Ihre Augen leuchteten vor Freude; seine waren verglast." Das ist eines der vielen literarischen Portraits, die man in der expressionistischen und in der nachexpressionistischen Literatur von dem Psychoanalytiker gezeichnet hat. Es stammt aus Leonhard Franks autobiographischem Roman "Links wo das Herz ist", mit dem er 1952 an die Zeit seiner literarischen Jugend erinnerte. Er ist soeben wieder in einer Taschenbuchausgabe erschienen.

Otto Gross, der "bedeutendste Schüler Sigmund Freuds" (Erich Mühsam), vermittelte den Literaten- und Bohemekreisen in München, Ascona, Berlin, Wien und Prag die Psychoanalyse in einer kulturrevolutionären Version. Freud selbst pries ihn, bevor es zum Bruch kam, als "hochintelligent" und "hochbegabt". An C. G. Jung schrieb er am 28.2.1908, er und Gross seien die einzigen, die zur Ausarbeitung der Psychoanalyse Eigenständiges beizutragen hätten. Der so Gelobte tat dies indes auf eine Weise, die den Lehrer bald befremdete. Otto Gross war wohl der erste, der, Jahrzehnte vor Wilhelm Reich (nach einer Äußerung Franz Jungs von 1955 eine "direkte Kopie" von Gross) oder Herbert Marcuse, die Psychoanalyse zum Instrument der Gesellschaftskritik machte und mit nachdrücklichem Blick auf die Leiderfahrungen des einzelnen den Zusammenhängen von sozialen und psychischen Konflikten nachging. "Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben", soll Freud dem Kulturanalytiker einmal entgegengehalten haben. Gerade weil Gross (wie später auch Freud) sich nicht nur als Arzt und Therapeut verstand, konnte er Kafka und seine Generation derart faszinieren. Otto Gross, das wird seit seiner Wiederentdeckung in den späten siebziger Jahren immer deutlicher, hat die expressionistische Generation wie wenige andere mit geprägt.

Um Gross war es seit einiger Zeit ruhig geworden. Inzwischen jedoch bewegt sich wieder etwas. Rechtzeitig zu einem Gross-Symposium und zur damit einhergehenden Gründung der Internationalen Otto-Gross-Gesellschaft im Juni dieses Jahres in Berlin (http://www.ottogross.org) legten die Initiatoren dieser Gesellschaft eine umfassende Bibliographie seiner Werke sowie der Schriften über Gross vor, die sich - zentral oder marginal - mit seinem Leben, seinem Werk oder seiner Wirkung auseinandersetzen. Berücksichtigt wurden dabei nicht nur Monographien, Dissertationen, Habilitationsschriften und Aufsätze, sondern sogar unveröffentlichte Magister- und Diplomarbeiten. Die Verfasser haben gut und umfassend recherchiert. Auch Zeitungsartikel, Rundfunksendungen oder Veröffentlichungen im Internet haben sie verzeichnet.

Vieles von dem, was von und über Gross veröffentlicht wurde, ist im Buchhandel nicht mehr lieferbar: die grundlegende und nach wie vor maßgebliche Monographie von Emanuel Hurwitz ebensowenig wie die von Kurt Kreiler herausgegebene Sammlung der Schriften von Gross. Als Taschenbuch immerhin kann man noch jenes Buch bekommen, dessen Übersetzung hierzulande die Wiederentdeckung von Gross einleitete: Martin Greens "Else und Frieda. Die Richthofenschwestern". Lieferbar ist auch die an der Universität Freiburg entstandene Dissertation von Michael Raub mit dem Titel "Opposition und Anpassung. Eine individualpsychologische Interpretation von Leben und Werk des frühen Psychoanalytikers Otto Gross". Gross wird hier nicht nur als Widersacher seines Vaters und der durch ihn repräsentierten patriarchalischen Gesellschaft beschrieben, sondern als Mensch, der im tiefen Konflikt mit sich selbst steht, sich der väterlichen Welt immer auch angepaßt und sie in gewissem Sinne sogar bejaht hat. Die psychologischen Teile des Buches orientieren sich an Alfred Adlers Individualpsychologie, auf die auch Gross zum Teil rekurriert. Historisch wird Gross auf dem Hintergrund der damaligen Krise der väterlichen Autorität interpretiert.

Anzuzeigen sind jedoch auch zwei neue Bücher, in denen Gross eine wichtige Rolle spielt. Das eine zeichnet die Freundschaft zwischen Gross und jenem expressionistischen und dadaistischen Autor nach, der dem Psychoanalytiker zeitweilig am engsten verbunden war. "Das Verschwinden von Franz Jung. Stationen einer Biographie" hat Fritz Mierau, Mitherausgeber der Werkausgabe von Franz Jung, sein Buch über jenen Autor genannt, mit dem er sich einen großen Teil seines Lebens beschäftigt und wohl auch identifiziert hat. Die Kennerschaft geht mit dem biographischen Darstellungsvermögen, das den der Persönlichkeit von Franz Jung angemessenen Stil findet, eine geglückte Verbindung ein. Das zeigen auch die vielen Passagen, die von Otto Gross handeln.

Für Franz Jung war Otto Gross, so charakterisiert Fritz Mierau diese Beziehung, "vor allem der ältere Freund, der erste, vielleicht der einzige Freund." Es war die Wohnung Franz Jungs, in der die Polizei im November 1913 Gross auf Veranlassung des einflußreichen Vaters Hans Gross, dem damals renommierten Grazer Kriminologen, verhaftete, um ihn in einer Anstalt zu internieren. Und Franz Jung war es, der jene legendäre Protestkampagne initiierte, die so erfolgreich war, daß er den in der Anstalt bereits zum Assistenzarzt avancierten Freund bald ganz offiziell in die Freiheit zurückholen konnte. Er sei in der Anstalt "empfangen worden wie ein inspizierender Minister aus der Wiener Regierung", erinnerte sich Jung später. Die triumphale Befreiung hatte für die expressionistische Revolte der Söhne gegen die Väter exemplarische Bedeutung. Mehr jedoch noch war sie, wie Fritz Mierau hervorhebt, ein Schlüsselerlebnis und Gründungsakt von der Art, wie es in Frankreich die Kampagne Zolas zugunsten des jüdischen Hauptmanns Dreyfus für den Typus des politisch engagierten Intellektuellen gewesen ist. Prägend für spätere politische Aktivitäten wurde die "Erfahrung einer Sammlung, die Erfahrung einer Konzentration, die Erfahrung einer 'Vertrustung', wie Jung bald sagen würde, die so starke Kräfte mobilisiert, daß das gesteckte Ziel erreicht wird."

Gemäß dem in diesem Freundeskreis praktizierten Anarchistenprinzip der gegenseitigen Hilfe hat Gross seinerseits wenig später Jung in einer ähnlich bedrohlichen Situation ähnlich effektiv geholfen. Als der Soldat Franz Jung nach den ersten Kriegsmonaten nicht in die Kaserne zurückkehrte und von der Polizei gesucht wurde, bewahrte ihn Gross durch ein Attest mit einer äußerst geschickt verfaßten Diagnose sowohl vor einem längeren Gefängnisaufenthalt als auch vor dem, was als Alternative drohte: die Einweisung in eine Anstalt.

Von den vielen Zeitschriftenprojekten, die Otto Gross mit seinen expressionistischen Zeitgenossen, darunter auch Kafka, plante, ist zumindest eines unter der Federführung Franz Jungs in Ansätzen realisiert worden: die "Vorarbeit" im eigens dafür gegründeten Verlag "Die freie Straße". Was "Vorarbeit" bedeuten sollte, hatte Otto Gross schon 1913 den Lesern der expressionistischen Zeitschrift "Die Aktion" in seinem Aufsatz "Zur Überwindung der kulturellen Krise" erklärt: "Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution, d.h. sie ist berufen, zur Freiheit innerlich fähig zu machen, berufen als die Vorarbeit der Revolution."

Die Zeitschrift gilt auch als Vorarbeit des Dadaismus. Welche Bedeutung Otto Gross für den Dadaismus hatte, insbesondere für Raoul Hausmann, ist von der Dada-Foschung zwar gelegentlich gesehen, doch selten in angemessener Gewichtung dargestellt worden. Das hat jetzt der Avantgarde-Forscher Hubert van den Berg mit seinem umfangreichen Buch über "Dada in Zürich und Berlin" geleistet. Die brisante Mischung aus Psychoanalyse (Freud, Jung und Adler), Nietzsches Vitalismus und anarchistischen Theorieelementen, die für die Schriften von Gross kennzeichnend ist, mußte dem Niederländer auch deshalb in den Blick geraten, weil seine Arbeit den Zusammenhängen von "Avantgarde und Anarchismus" nachgeht und sein Konzept einer "integrativen Literaturgeschichte" dem entspricht, was die Avantgardebewegung praktizierte: die programmatische Überschreitung der Grenzen zwischen Psychologie, Philosophie, Politik und Kunst. Die Schriften von Gross werden hier für die Leserinnen und Leser, die sie noch nicht kennen, so ausführlich referiert, daß sich die betreffenden Passage des Buches auch als kleine Einführung in sein schmales Werk eignen. Daß sie Gross in größere Nähe zu Kropotkin als zu Stirner rücken, ist überzeugend. Vieles von dem, was van den Berg ausführt, ist ansonsten bekannt, doch mischen sich in das Bekannte wiederholt überraschende Einsichten. So zeigt das Buch etwa, daß Jung in der öffentlichen Kampagne zur Befreiung von Otto Gross dessen psychoanalytisches Instrumentarium benutzte, um das Persönlichkeitsprofil des Vaters Hans Gross, des Repräsentanten von Recht und Ordnung, als ein pathologisches zu beschreiben.

Eine kleine kritische Anmerkung sei jedoch hinzugefügt: Die Patriarchatskritik und die Matriarchatsbegeisterung in den Kreisen um Otto Gross werden zwar eingehend gewürdigt, doch als van den Berg auf jene Gemeinschaft von acht Personen zu sprechen kommt, bestehend aus sechs Männern und zwei Frauen, die gleichsam im persönlichen Zusammenleben die praktische Vorarbeit zu leisten versuchen, die in der Zeitschrift theoretisch und künstlerisch konzipiert wird, erwähnt das Buch lediglich vier Männer. Mieraus Jung-Biographie zeigt sich hier dem Geist und den Lebensformen, die sie beschreibt, näher: "Ein kleiner Kreis persönlich verbundener Leute: Franz Jung und Otto Gross, Max Herrmann, Georg Schrimpf, Oskar Graf, Richard Oehring und Cläre Otto, die Richard Oering 1915 heiratet, und die Malerin Elas Schiemann. Entscheidend für die Tragweite der Vorarbeit ist die Unbedingtheit der gegenseitigen Zuwendung. Es sind Rettungen gewesen, die die acht miteinander verbanden, Rettungen aus Besitzansprüchen, sie seien die des Vaters, des Liebenden, des Staates, der Kirche oder der Ästhetik."

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Michael Raub: Opposition und Anpassung. Eine individualpsychologische Interpretation von Leben und Werk des frühen Psychoanalytikers Otto Gross.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 1994.
287 Seiten, 45,50 EUR.
ISBN-10: 3631466498

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Martin Green: Else und Frieda. Die Richthofen-Schwestern. Aus dem Amerikanischen von Edwin Ortmann.
Piper Verlag, München 1996.
407 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3492223230

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Fritz Mierau: Das Verschwinden von Franz Jung. Stationen einer Biographie.
Edition Nautilus, Hamburg 1998.
333 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3894012943

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Hubert van den Berg: Avantgarde und Anarchismus. Dada in Zürich und Berlin.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
509 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3825308529

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Leonhard Frank: Links wo das Herz ist.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 1999.
251 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 374661435X

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Raimund Dehmlow / Gottfried M. Heuer: Otto Gross. Werkverzeichnis und Sekundärschrifttum.
Laurentius Verlag Raimund Dehmlow, Hannover 1999.
108 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3931614859

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