Der Mensch als Maß und Gott

Medizinethik und Humangenetik auf dem XVIII. Deutschen Kongress für Philosophie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom 4. bis 8.10. 1999 tagte in Konstanz der XVIII. Deutsche Kongress für Philosophie unter dem Rahmenthema "Die Zukunft des Wissens". Jürgen Mittelstraß dokumentiert in einem nunmehr erschienenen Sammelband die öffentlich und in den Kolloquien gehaltenen Vorträge. In der Eröffnungsrede des Kongresses betonte der Herausgeber, dass die Themenstellung zum einen dem Umstand gerecht werden solle, "daß dem Wissen als Ressource, als Problemlösungsinstanz und als Orientierungsfaktor" eine wachsende Bedeutung zukommen werde, und zum anderen - wichtiger noch -, dass die zunehmende praktische Relevanz der Philosophie dokumentiert werden soll. Ein Bestreben, dass Sektionsthemen wie "Technik und Langzeitverantwortung", "Wirtschaftsethik" und "Bio- und Medizintechnik" unterstreichen. Gegen das Elfenbeinturmimage der Philosophie sollte der Kongress belegen, dass auch sie "zur Lösung der Probleme der Welt" beizutragen vermag.

Angesichts der Themenstellung und des im Herbst 1999 virulenten Hypes um den Elmenauer Vortrag Peter Sloterdjiks kam Mittelstraß nicht umhin, dem eigentlichen Kongress einige kritische Bemerkungen zu dem Medienstar und Entertainer, der gerne den Denker auf der Bühne mimt, voranzuschicken. Mittelstraß gesteht Sloterdjiks umstrittener Rede zwar zu, "bisweilen geistreich" zu sein, kritisiert jedoch ihre mangelnde begriffliche Klarheit und zeiht den Karlsruher Philosophen, mittels einer "abenteuerlichen Platoninterpretation, einigen oberflächlichen Ausflügen ins Biologische und Überlegungen über Züchtung und Anthropotechnik", die sich nahezu völlig "in nebulösen und insinuierenden Andeutungen und Halbheiten" erschöpften, versucht zu haben, "den Stab über das Wesen des Humanismus zu brechen". Im Gefolge der Rede sei ein "Lärm" veranstaltet worden, der "einer ernsthaften Arbeit der Philosophie und ihrer Wahrnehmung im öffentlichen Bewußtsein abträglich" sei. Fühle sich die Öffentlichkeit nun doch einmal mehr in der falschen Annahme bestätigt, in der Philosophie werde vor allem "geraunt, verdunkelt, provoziert und auf eine alte Rattenfängerart der halbgebildete Verstand in die Orientierungslosigkeit gezogen".

Die Zukunft der Philosophie, so schloss Mittelstraß seine Ausführungen, liege in der "Konkurrenz um das bessere Argument" und nicht in einer "Konkurrenz um den besseren Platz in Feuilleton und Talkshow". Mittelstraß' Sloterdjik-Kritik dürfte ebenso wie sein Resümee unter den Anwesenden auf weitgehende Zustimmung gestoßen sein.

Entsprechend ernsthaft, philosophisch tiefgründig und praxisbezogen waren sowohl die öffentlichen Vorträge als auch die Referate in den Kolloquien. Etwa wenn in der Sektion "Technik und Langzeitverantwortung" Christoph Hubig einen "widersprüchlichen Eindruck mangelnder Disponibilität der Zukunft einerseits und gesteigerter Machbarkeit andererseits" konstatierte und es unternahm, eine "Langzeitverantwortung im Lichte provisorischer Moral" aufzuzeigen.

In der gleichen Sektion gelang Angelika Krebs in ihrem Vortrag "Wieviel Natur schulden wir der Zukunft?" eine überzeugende Auseinandersetzung mit derzeit diskutierten gerechtigkeitstheoretischen Fragestellungen. Die komparatistische Haltung des gegenwärtig die Diskussion um die Zukunftsverantwortung wesentlich bestimmenden egalistischen Diskurses und seine Forderung, wir hätten dafür Sorge zu tragen, dass es künftigen Generationen zumindest ebenso gut, möglichst aber besser geht als uns, lehnt Krebs ab. Stattdessen legt sie ein plausibles Konzept vor, das besagt, wir sollten "Zukünftigen eine Welt hinterlassen [...], in der sie menschenwürdig leben können", ganz unabhängig davon, ob das bedeutet, sie leben besser als wir oder - falls wir in Luxus schwelgen - schlechter. Ihr dezidierter "zukunftsethische Antiegalismus" bestimmt "unsere Verpflichtung" gegenüber den Zukünftigen also "absolut". Ebenfalls überzeugend ist ihr grundlegendes moralisches Kriterium: die "Berücksichtigungswürdigkeit" der "Verletzbarkeit im Empfinden und/oder Tun" anstelle von "Kooperationsfähigkeit oder Rationalität oder Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung oder Teleologie, Vielfalt, Schönheit oder bloßer Existenz". Das schließt auch ein, Zukünftigen eine intakte Natur zu hinterlassen, in der sie die Möglichkeit "sinnlicher, ästhetischer, kontemplativer und identitätsstiftender Naturerfahrung" haben.

Weit stärker noch als die Langzeitverantwortung werden seit einiger Zeit in der publizierten Öffentlichkeit, vor allem den Feuilletons, bio- und medizinethische Fragen diskutiert. Auch der Deutsche Kongress für Philosophie wartete mit einer Sektion zu diesem Thema auf. Die sich abzeichnenden "neuen Möglichkeiten menschlichen Handelns werfen alte Fragen neu auf", formulierte Richard Schröter im Eröffnungsreferat treffend. Nach Kant bündelten sich die drei Fragen der philosophischen Disziplinen Erkenntnistheorie ("Was kann ich wissen?"), Ethik ("Was soll ich tun?") und Religionsphilosophie ("Was darf ich hoffen?") in der zentralen, möglicherweise der Anthropologie zuzuordnenden, Frage "Was ist der Mensch?" Gerade sie, so Schröter, stelle sich heute völlig neu. "Selbstwidersprüchlich", so seine These, sei die Vorstellung einer "kollektiven Selbstbestimmung zur kollektiven Selbstverbesserung, also der Produktion des 'neuen Menschen'". Dabei sei es gleichgültig, ob diese durch ideologische Konditionierung ins Auge gefasst werde oder durch biologische Züchtung. Unmittelbar einleuchtend ist Schröters Begründung, dass eine solche vermeintlich kollektive Selbstbestimmung tatsächlich nichts anderes sei als "die individuelle Fremdbestimmung der kommenden Generation". An die Stelle des "anonymen oder gottgegebenen Schicksals" trete nur ein von anderen Menschen über uns verhängtes, für uns selbst jedoch ebenso unverfügbares Schicksal. Dass aber "die entscheidende[n] Dimensionen meiner Existenz der Verfügung durch meine Mitmenschen und wohl auch meiner eigenen Verfügung entzogen bleiben", gehört für Schröter gerade zu den Ermöglichungsbedingungen der Freiheit endlicher Wesen wie uns.

Die Sektionsbeiträge selbst untersuchen etwa die Interpretationen genetischer Daten (Christoph Rehmann-Sutter) oder ethische Aspekte der Selektion von Nachkommen (Dieter Birnbacher). Rehmann-Sutter sieht die moderne Genetik als "Unternehmen der Um-Schreibung des anthropologischen Textes" und untersucht die durch die "neue Kartographierung des Menschen" erfolgenden Veränderungen im Verhältnis von Erkenntnissubjekt und -objekt. Vehement widerspricht er der verbreiteten Annahme eines durch 'genetische Veranlagung' mehr oder weniger unausweichlich vorgezeichneten Schicksals, etwa einer bestimmten Erkrankung zu erliegen. Ein "genetischer Verursachungskomplex" bestehe erst, "wenn die Gene tatsächlich von Prozessen zu Verursachungskomplexen zusammengefaßt wurden". Der Genotyp eines Menschen sei keine "fixe Mitgift". Vielmehr handele es sich um eine "fluide Ebene", deren Verursachungskomplexe immer erst im Nachhinein festgestellt werden könnten, also erst dann, wenn eine Krankheit ausgebrochen ist. "Es ist nichts vorgeschrieben, bevor es sich verwirklicht", fasst er prägnant zusammen.

In seinem Plädoyer für die Selektion von Nachkommen wird Birnbacher von einem Verständnis menschlicher Würde geleitet, das demjenigen von Angelika Krebs geradezu diametral entgegengesetzt ist. Der Mensch sei, so seine Auffassung, "von seinen anthropologischen Grundbestimmungen her geradewegs darauf angelegt, 'Gott zu spielen'". Denn, so Birnbacher, die spezifische menschliche Würde liege darin, "sich kraft seiner Vernunft von der Natur nicht alles zumuten zu lassen". An die Stelle des Maßes der Natur dasjenige des Menschen zu setzen, mache seine Stärke und seinen Stolz aus.

Nach diesen starken Worten wendet sich Birnbacher einigen gegen die Selektion von Nachkommen vorgebrachten Bedenken zu, indem er zunächst die Kritik an den Mitteln der Selektion auf ihre Stichhaltigkeit befragt und sodann zum eigentlichen Kern vorstößt, der Kritik an der Selektion selbst, die neben dem Lebensschutzargument im Wesentlichen von drei weiteren Argumenten getragen wird: dem Expressionsargument, dem Kränkungsargument und demjenigen, das auf die sozialen Gefahren verweist, die die Selektion von Nachkommen tatsächlich oder vermeintlich birgt.

Das Expressionsargument besagt, Selektion von Nachkommen sei wegen der objektiven Implikationen unzulässig, die sie für Menschen hat, deren Lebensrecht durch sie indirekt in Frage gestellt oder gar bedroht ist. Birnbacher hält entgegen, die Tatsache, dass ein Kind mit einem bestimmten Merkmal in einer bestimmten Situation abgelehnt wird, bedeute nicht, dass alle Menschen mit dem gleichen Merkmal in allen Situationen abgelehnt werden würden. Ja es bedeute nicht einmal, dass dieselben Eltern ein zweites Kind mit den gleichen Merkmalen wiederum ablehnen würden oder bereits früher ein Kind mit diesem Merkmal abgelehnt hätten. Als Beispiel führt er an, dass Eltern, die bereits einen Jungen haben, nun vielleicht eine Tochter haben möchten. Darum aber seien Männer nicht diskriminiert. In der Regel aber, und das verschleiert Birnbachers Beispiel, geht es um andere, um als 'Behinderung' verstandene Merkmale. Es dürfte wohl kaum vorstellbar sein, dass Eltern, die bereits drei nichtbehinderte Kinder haben, nun zur Abwechslung mal ein behindertes haben möchten. Und gesetzt den Fall, würde sich die Frage stellen, ob es ethisch zu verantworten wäre, dass Eltern ihre Nachkommen - aus vielleicht sogar niederen Beweggründen - so selektieren, dass sie ein geistig oder körperlich möglichst schwerwiegend beeinträchtigtes Kind bekommen.

Die sozialen Gefahren der Selektion von Nachkommen achtet Birnbacher gering. Die "Chance einer erweiterten reproduktiven Freiheit der Eltern" wöge sehr viel schwerer. Um die Gefahr abzuwehren, dass sich "dieses Gut" in "gesellschaftlichen Zwang" verwandle, schlägt er vor, Eltern, die auf pränatale diagnostische Möglichkeiten verzichten, "vor gesellschaftlicher Diskriminierung zu schützen und durch großzügige Hilfen die Bedingungen für eine genuine Freiwilligkeit herzustellen". Eine geradezu naiv anmutende Forderung. Man denke nur an die Interessen und Bestrebungen von Versicherungen und Arbeitgebern. Nicht nur Kinder, die entgegen bestimmter Selektionskriterien ausgewählt wurden, sondern auch diejenigen, deren Eltern auf diagnostische Möglichkeiten verzichteten, dürften Gefahr laufen, dass ihnen bestimmte Arbeitsplätze versagt bleiben, sie dafür aber höhere Kranken- und Lebensversicherungen zu bezahlen hätten.

Überraschenderweise hält Birnbacher das Kränkungsargument für das stärkste. Anders als das Expressionsargument zielt es nicht auf die tatsächlichen Auswirkungen, die Selektion von Nachkommen auf Menschen mit gleichen Merkmalen hat, sondern alleine auf deren Gefühle, unabhängig davon, ob sie "berechtigt oder unberechtigt sind". Doch gerade dieses Argument ist nicht besonders stichhaltig. Denn - und das scheint Birnbacher nicht zu sehen - würde ein individuelles, bloß subjektives Bedrohtheitsgefühl, das rationaler Begründung enthoben wäre, als Verbotsanlass bestimmter Handlungen oder Aussagen ausreichen, so wäre der Verbotswillkür Tür und Tor geöffnet.

Trotz des von Birnbacher für relativ stark gehaltenen Kränkungsargumentes scheinen ihm "aufs Ganze gesehen" die Vorteile einer zunehmenden Erleichterung und Erweiterung der Auswahl von Nachkommen zu überwiegen. "Die Freiheit, in gewissem Umfang über die qualitative Beschaffenheit der eigenen Kinder zu entscheiden", könne als eine "konsequente Erweiterung der heute bereits bestehenden Freiheit" aufgefasst werden, darüber zu befinden, wann man Kinder bekommen möchte und wie viele. "Vor allem für die primär betroffenen Frauen", so Birnbacher, habe Nachkommensselektion "emanzipatorische Wirkungen". Doch hinter dieser vermeintlich frauenfreundlichen Haltung verbirgt sich die misogyne Auffassung, dass es die Frauen sind, die sich um die Kinder zu kümmern haben. So ist es de facto, und daran soll sich offenbar auch nichts ändern. Doch nicht die Selektion von Nachkommen wäre emanzipatorisch, sondern die Aufhebung der Trennung und Hierarchisierung von 'reproduktiver und produktiver Arbeit'; oder einfacher gesagt: dass Männer sich ebenso sehr und ebenso selbstverständlich um Kinder kümmern und im Haushalt tätig sind wie Frauen es tun, und diese es ebenso selbstverständlich nicht tun, sondern beruflich tätig sind.

Titelbild

Jürgen Mittelstraß (Hg.): Die Zukunft des Wissens. XVIII deutscher Kongress für Philosophie. Vorträge und Kolloquien.
Akademie Verlag, Berlin 2000.
566 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3050035366

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